Heute große Überschrift im Mannheimer Morgen: "Haben Wahlsieg hart erarbeitet".
Aussage einer SPD-Politikerin, die sich ein Direktmandat bei der Bundestagswahl "geholt" hat.
Auch wenn ich keiner neuen Abgeordneten die harte Arbeit im Wahlkampf absprechen möchte, so sollte doch die Bescheidenheit an den Tag gelegt werden, die der Erkenntnis Raum lässt, dass die Arbeit ohne die öffentlichkeitswirksame Linie der Spitzenkandidaten und ohne den Zeitgeist wohl eher fruchtlos geblieben wäre, wie viele Kandidaten der CDU am eigenen Leib erfahren durften.
Ich habe meine Kreuzchen zweimal beim Spitzenkandidaten gemacht, auch wenn der nicht auf dem Wahlzettel stand. Da dürfte es noch eine ganze Menge Menschen geben, die genauso gehandelt haben.
Jetzt bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung könnte eine gewisse Bescheidenheit hilfreich sein, damit die Regierungsbildung nicht an dem Glauben scheitert, man hätte ein eindeutiges Mandat für die Realisierung des eigenen Konzepts erhalten.
Gerade auch die Spitzenkandidaten sollten sich jedoch darüber im Klaren sein, dass ihre Zielsetzungen, insbesondere die ideologisch - ob sozialistisch oder neoliberal - eingefärbten pragmatischen Kompromissen weichen müssen.
Das müssen keine faulen Kompromisse sein.
Aber es werden Kompromisse sein müssen, die die jeweilige Ideologie mindestens teilweise oder auf Zeit aussetzen lassen.
Die Kompromissbildung kann erheblich erleichtert werden, wenn Projekte und auch Gesetze mit Verfallsdatum ausgestattet werden oder mindestens eine nicht in allzu großer Ferne liegende Evaluierung vorgesehen wird. Somit kann auch mal dem Andern der Vortritt für ein zeitlich befristetes Experiment gelassen werden, ohne sich einen Zacken aus der Krone zu brechen.
Hier wäre z.B. die Gesetzgebung um Hartz IV als schlechtes Beispiel zu benennen. Hartz IV hatte das wesentliche Ziel die damalige Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Doch obwohl das Ziel bald erreicht wurde blieb die Gesetzgebung mit all ihren negativen Nebenwirkungen in Kraft.
So konnten selbst die Urheber der Gesetze, wie gut zu beobachten war, trotz großer politischer Kraftanstrengung nur noch marginale Veränderungen durchsetzen, weil plötzlich selbst der politische Gegner Gefallen an den Gesetzen gefunden hatte.
Projekte und Gesetze auf Zeit müssen den Praxistest bestehen. Die zu erreichende Zielsetzung ist genauer zu beschreiben als die für die Ausführung notwendigen Details. Und wenn die Zielsetzungen nicht erreicht werden, dann sind zügig aus Erfahrungen gewonnene Erkenntnisse in neue Vereinbarungen und Gesetze einzubringen.
Weitere Überschrift im Mannheimer Morgen:
"Regierungsbildung: Experte glaubt, dass die Liberalen nur einer Koalition zustimmen, wenn sie das Finanzministerium bekommen - Es geht auch um Posten"
Der Experte -Professor der Universität Mannheim -meint: "Das Finanzministerium wäre der ideale Hebel für die FDP, um ihre Hauptthemen Steuern und Finanzen in der Bundesregierung ausspielen zu können."
Welch eine seltsame Denkweise.
Man sollte sich keine Illusionen über den immerwährenden politischen Kampf im Tagesgeschäft machen. Dennoch - entscheidender für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist doch wohl eher das Bemühen um die Einhaltung von vornherein definierten trennscharfen Leitlinien und das dazugehörige gegenseitige Vertrauen. Wer gleich zu Beginn der Regierungsarbeit so denkt und handelt riskiert den frühen Abbruch des 3-Parteien-Experiments.
Im Übrigen dürften weder Habeck noch Lindner geeignet für das Finanzministerium sein. Dort sollte ein Fachmann sitzen, der keine eigene Politik macht, einer der die Finanzmittel für die vereinbarten Projekte bereitstellt. Habeck und Lindner sollten eher Posten anstreben, die eine zielsichere Kommunikation bei neuartigen Projektansätzen in die Gesellschaft hinein verlangen.
Wer jetzt eine Regierungsbildung anstrebt, die nur auf die Regierungsbeteiligung und auf Posten setzt und somit keine neuen Maßstäbe für die Zusammenarbeit entwickelt, der dürfte scheitern
Wer die neue und überraschend klare Verschiebung der politischen Achse unreifen Vorstellungen opfert oder faule Kompromisse zugunsten der eigenen Profilierung oder des eigenen Überlebens eingeht wird die nächste Bundestagswahl nicht überleben.
All das sagt mir meine Glaskugel, die heller als je zuvor leuchtet.
Sie verdunkelt sich allerdings, wenn ich danach frage, warum die Erstwähler teilweise erfahrenere Wähler ersetzt haben. Und wenn ich weiter frage, ob diese Wähler sich nicht von der einen oder anderen Rhetorik besonders blenden ließen und ob sie das nach 4 Jahren Regierungsbeobachtung auch noch tun werden?
Ganz dunkel wird sie bei der Frage, ob die politischen Extreme angesichts der hochkomplexen Herausforderungen an den Rändern gehalten werden können.