Sehr geehrte Damen und Herren,
"Zeitenwende“, ein Begriff, den Bundeskanzler Olaf Scholz in Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine verwendet hatte, kürte eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache kürzlich zum Wort des Jahres 2022.
2022 war das Jahr der Umbrüche.
Die Zeiten ändern sich zwar ständig. Doch 2022 könnte in zukünftigen Rückblicken als ein Jahr betrachtet werden, in dem mehrere entscheidende und dramatische Umbrüche stattfanden oder zumindest sichtbar wurden. Insbesondere Europa könnte man künftig in vor und nach 2022 einteilen.
Im russischen Krieg gegen die Ukraine, der genau genommen bereits seit 2014 schwelt, zeigen sich gleich mehrere Veränderungen überdeutlich.
Viele Ideen sind zu Bruch gegangen. Die einer friedlicheren Welt nach dem Ende des Kalten Krieges etwa. Oder die von unbegrenzt verfügbarer, billiger fossiler Energie. Oder, die von einem bequemen und überheblichen Pazifismus, der geopolitisches Machtstreben einfach ignoriert.
Natürlich waren diese Ideen auch schon vorher auf Sand gebaut.
Lange Zeit konnten wir unangenehme Realitäten ausblenden, beziehungsweise auslagern, in andere Länder, die den Preis für unseren Wohlstand und unsere unersättliche Gier nach Rohstoffen bezahlen.
Doch der brutale Schock, der am 24. Februar die deutsche Öffentlichkeit erfasste, rückte diese verdrängten Tatsachen schonungslos in den Blick.
Für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist es eine weitaus drastischere und brutalere Zeitenwende. Für sie geht es ums nackte Überleben, für uns bisher hauptsächlich um steigende Preise und einen überschaubaren Wohlstandsverlust.
Für uns in Deutschland ist diese Zeitenwende unangenehm, weil sie viele liebgewonnene Illusionen und Bequemlichkeiten zerstört hat.
Existenzbedrohend ist sie für die meisten von uns nicht.
Es gilt nun, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und Antworten zu finden auf Fragen, die sich schon lange stellten, aber nie beantwortet wurden.
Wie lässt sich unser global betrachtet vergleichsweise luxuriöser Lebensstil, an den wir uns gewöhnt haben, mit der Tatsache zusammenbringen, dass fossile Energie-Ressourcen zum einen begrenzt vorhanden sind, und zum zweiten einen in mehrerer Hinsicht hohen Preis haben?
Auf welche Weise können wir wieder bescheidener, genügsamer und demütiger werden?
Wie schaffen wir es, dass wir wieder mutiger werden und uns sozial und gesellschaftspolitisch wieder mehr engagieren statt nur "gegen alles" zu sein?
Wie können wir erreichen, dass in Europa dauerhafter und stabiler Frieden herrscht?
Welche Konzepte jenseits von bloßer Abschreckung und Aufrüstung, die offensichtlich nicht erfolgreich waren, gibt es?
Wie gehen wir mit nach wie vor vorhandenen Atomwaffen in Händen von skrupellosen Diktatoren um?
Und wie bekämpfen wir die weiter voranschreitende soziale und gesellschaftliche Spaltung in Deutschland? Wie verhindern wir, dass immer mehr Menschen von immer mehr Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen werden?
Einfache Antworten und schnelle Lösungen gibt es nicht.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist politisch viel zu viel verschlafen worden.
Die Zeitenwende, die gerade stattfindet, wird nicht einfach mit einem Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland irgendwann beendet werden.
Der Krieg wird eines Tages und hoffentlich sehr bald vorbei sein, aber die Fragen werden bleiben.
Und wir werden uns mit ihnen beschäftigen müssen, ob es uns passt oder nicht.
Eine Rückkehr zur Tagesordnung von vor 2022 wäre grob fahrlässig.
Freundliche Grüße
Alfred Kastner