Missbrauch der Demokratie durch Machtinteressen
Dies ist kein Angriff auf die Demokratie. Es ist ihr Verteidigungsschrei.Denn was heute unter dem Namen Demokratie verkauft wird, ist oft nur noch Fassade – gesteuert von Lobbyinteressen, geprägt von Entfremdung, auf Kosten der Mehrheit. Es geht mir um den Kern der Demokratie: die Begrenzung von Macht und die Beteiligung der Vielen. Was wir stattdessen erleben, ist Machtkonzentration – ökonomisch, politisch und medial.
Das Wir stirbt mit uns
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Seit Urzeiten überleb(t)enwir nur in Gruppen, Stämmen, Familien. Doch heute vegetiert über die Hälfte der Deutschen in Singlehaushalten. Psychische Erkrankungen steigen dramatisch. Einsamkeit ist laut WHO ein enormes Gesundheitsrisiko – vergleichbar mit dem Risiko durch das Rauchen zu erkranken und zu sterben[Quellen: Statistisches Bundesamt (2024). Haushalte und Familien; DAK Gesundheit (2024): Psychreport 2024]. Einsamkeit sei „das Lebensrisiko Nummer eins“, betont der renommierte Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer. Nachzulesen in seinem Buch „Einsamkeit tötet“, über die Gefahren und Gefährdungen durch das Massenphänomen Einsamkeit – ein Interview mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer erhellt das[https://www.youtube.com/watch?v=Z68Dwr2JHic].
Ich-Gesellschaft in Reinform
Die westliche Psychotherapie folgt bis heute Sigmund Freud, der das Ziel formulierte: „Stärkung des Ichs“. Zitat: „Man könnte von der Psychoanalyse sagen, wer ihr den kleinen Finger gibt, den hält sie schon bei der ganzen Hand“ [(Freud, S. (1917). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke XI, S. 197. Frankfurt: S. Fischer)]. Doch genau das ist heute das Problem: Das Ich wurde zum Gott erklärt – und das Wir geopfert. Eine fatale Fehlentwicklung. Die eingetrichterte Selbstsucht, der indoktrinierte Egoismus, zerstören das Leben.
Absichern bis zum Umfallen
Deutschland hat weltweit mit die höchste Versicherungsdichte. Durchschnittlich 2.670 Euro pro Person wurden 2023 für Versicherungen ausgegeben – ein Rekord. Diese Information stammt vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft: Statistiken zur deutschen Versicherungswirtschaft (2024). Dahinter steht nicht „Vorsorge“, sondern Angst. Wer sich unsicher fühlt, versichert sich – gegen alles, außer gegen das Eigentliche: die Vereinsamung. In beiden Währungsreformen in Deutschland (nach dem I. Und II. Weltkrieg) sind die „Lebensversicherungen“ verfallen – im Fachjargon „genullt“ worden, was für ein perfider Begriff. Wer also glaubt, seine private Altersvorsorge sei sicher, der irrt sich gewaltig. Übrigens: Die Immobilen und andere Sachwerte der Versicherungsgesellschaften sind meines Wissens nie zugunsten der Versicherungsnehmer verwertet worden, sie waren für die Versicherer ein sehr guter Grundstock nach den Kriegen.
Soziale Marktwirtschaft vergessen
Wir hatten einmal die allerbeste Lösung für wirtschaftliche Gerechtigkeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland (BRD) die soziale Marktwirtschaft geschaffen – eine äußerst kluge Verbindung von Markt und sozialem Ausgleich. Alfred Müller-Armack formulierte 1947: „Das Prinzip der Freiheit auf dem Markte muss mit dem des sozialen Ausgleichs verbunden werden“ (Müller-Armack, Alfred:Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Hamburg (1947), Rowohlt Verlag).
Heute? Globalisierung, Finanzlobbys und Deregulierung haben dieses Modell ausgehöhlt, haben es zerstört. Die Reallöhne sind laut Bild „niedriger als vor 6 Jahren“ [Bild.de (2024, 4. August). Reallöhne niedriger als vor 6 Jahren!].
"Pseudo"-Demokratie als Alibi
Ursprünglich war Demokratie ein Schutz gegen Machtmissbrauch. Die Athener Demokratie entstand, um Aristokratie zu begrenzen. Heute dagegen scheint Demokratie (als Peudo-Demokratie) selbst zu einem Werkzeug von Machtinteressen geworden zu sein – etwa, wenn Konzerne über Gesetzgebungen mitentscheiden oder Sozialabbau durch „Sachzwang“ legitimiert wird. Dabei hat die soziale Marktwirtschaft fantastisch funktioniert. Die ganze Welt sprach – teils neidisch – vom „Wirtschaftswunder“ in Deutschland (BRD). Über die Gewerkschaften gab es echte Mitbestimmung in den größeren Wirtschaftsunternehmen. Die Macht der „Kapitalisten“ war gezügelt – und es hat funktioniert. Echte Demokratie, statt Parteien- und Kapitaldiktatur, statt blankem Egoismus, muss wieder hergestellt werden, sonst wird es – wie vor der Demokratie in Athen – zu gewaltigen Konflikten kommen.
Problemlöser: Ubuntu und Harambee
Während Europa sich im Individualismus verliert, lebt in Afrika, derzeit noch, eine Philosophie der Verbundenheit: Ubuntu: „Ich bin, weil wir sind.“ Und dazu Harambee: „Alle ziehen an einem Strang.“ Desmond M. Tutu (* 7. Oktober 1931 in Klerksdorp; † 26. Dezember 2021 in Kapstadt) und Nelson Mandela haben in Südafrika bewiesen, dass Konflikte mit den Weisheiten von Ubuntu und Harambee in der Praxis tatsächlich gelöst werden können. Es geht friedlich [Tutu, Desmond (1999). No Future Without Forgiveness. Image Books. TrustAfrica (2024). The Harambee-Ubuntu Initiative. www.trustafrica.org].
Diese beiden Prinzipien sind keine Folklore – sie sind unsere Zukunft. Sie sind unsere einzige Chance, wenn wir in Frieden und zufrieden (über)leben wollen.
Wir brauchen Rückbesinnung
Wenn Demokratie überleben soll, muss sie sich auf ihren Sinn zurückbesinnen: Machtbegrenzung, Teilhabe, Solidarität. Und wir als Gesellschaft müssen das Wir neu entdecken – nicht in Nostalgie, sondern in kluger Erinnerung daran, dass wir nur gemeinsam Mensch sein können.
Jörg Stimpfig