nach längerer Zeit wieder mal ein Leserbrief, der zwar schon im März des vergangenen Jahres geschrieben wurde, aber jetzt angesichts der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die Journalistin Carolin Emcke höchst aktuell ist.
Nachdem sie nun geradezu überschüttet wird mit Lobhudeleien, scheint es mir an der Zeit, diese ein wenig zu relativieren und auf ihre intellektuellen Grenzen aufmerksam zu machen. Selbstverständlich ist das meiste, was sie in ihrer wöchentlichen Kolumne in der SZ so von sich gibt, in Ordnung, manches sogar sehr gut.
Dennoch: die bizarre Einäugigkeit der meisten westlichen Journalisten und Publizisten hinsichtlich des Palästina-Konflikts reprodziert leider auch die Emcke. Das wird überdeutlich an dem Artikel vom 21. 3. des letzten Jahres (Titel "Ein Bier wartet") auf den sich mein Leserbrief bezieht, der natürlich nicht publiziert wurde, schon weil er viel zu lang war. Ende Zitat Anschreiben.
(veröffentlicht u. a. unter http://palaestina-portal.eu/Archiv/a255.htm)
Wieder einmal ein Artikel in der SZ, der deutlich macht, wie „Ausgewogenheit“ im Grunde den zur Debatte stehenden Sachverhalt geradezu vernebelt und damit - insbesondere im Falle Israels - unversehens die herrschende Einäugigkeit bekräftigt. „Das deutsche Schweigen zu Israel“ - so der deutsch-israelische Philosoph Omri Böhm -, dem sich, mit ganz wenigen Ausnahmen, die deutschen Intellektuellen und Vordenker unterworfen haben, reproduziert sich hier als der sattsam bekannte Versuch, über unbezweifelbare Tatsachen hinwegzusehen. Eine der dabei praktizierten Methoden ist die empörte Zurückweisung des Popanzes der nicht erlaubten Israelkritik. Selbstverständlich dürfe Israel kritisiert werden, und die SZ - v. a. in Gestalt ihres Nah-Ost-Korrespondenten Peter Münch - tut dies durchaus, aber letztendlich wird diese Kritik stets relativiert durch den Verweis auf die kräftig dämonisierten „Feinde“ Israels, gegen die es sich ja schließlich zur Wehr setzen müsse.
So bedient auch Carolin Emcke dieses Ideologem, indem sie den letzten „Krieg“ (vom Sommer vergangenen Jahres) als „Reaktion auf den nicht nachlassenden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen“ erklärt , wo „unter der radikal-islamischen Hamas Alkohol.....strikt verboten (ist)“, und ausreisen darf man aus diesem Gefängnis auch nicht.
An dieser Darstellung ist so ziemlich alles problematisch, wenn nicht falsch:
Dem Raketenbeschuss gingen drei Wochen voraus, in denen sich die israelische Armee im Westjordanland – so auch Peter Münch in der SZ – „ausgetobt“ hatte bei der angeblichen Suche nach den Entführern der drei Religionsschüler.
Resultat:
Tausende von Häusern verwüstet, Hunderte Palästinenser (v. a. Hamasmitglieder) verhaftet, mindestens 5 getötet und über 80 Luftangriffe auf Gaza geflogen.° Daraufhin erst feuerte auch die Hamas Raketen auf Israel.
Im Übrigen ist es mittlerweile zweifelsfrei erwiesen, dass die Hamas-Führung – anders als Israel sofort behauptete - keineswegs verantwortlich war für die Entführung und Ermordung der illegal im Westjordanland siedelnden Religionsschüler.
Daß Alkohol im Gaza-Streifen verboten ist, scheint für die Autorin Bestätigung des „radikal-islamischen“ Charakters der Hamas zu sein. Dabei ist Alkohol in muslimischen Ländern, auch bei engen Verbündeten des Westens, generell verpönt, was man als mitnichten abwegigen Ausdruck einer religiös-bestimmten Kultur ja auch respektieren könnte.
Und während die Autorin insinuiert, dass es die Hamas sei, die die Ausreise der Palästinenser im Gazastreifen verhindere, blendet sie den eigentlichen Entscheider, die israelische Besat-zungsmacht, die willkürlich über Ein- und Ausreise bestimmt, erstaunlicherweise aus. Es war ja eine der zentralen Waffenstillstandsbedingungen der palästinensischen Seite, dass genau diese Blockade aufgehoben werden muß. „Lieber gleich (im Krieg) sterben als langsam vom Besatzer erdrosselt zu werden“ – das war die erschütternd-resignative Stimmung im Gaza-streifen während des Massakers.
Was die israelische Wahl angeht, so scheint die Autorin nicht recht glücklich zu sein mit der „Enttäuschung der internationalen Kommentatoren über diese demokratische Entscheidung“. Erinnert sei daran, dass der Respekt, den die Autorin hier offenbar vermisst, den Palästinen-sern 2006 nach ihrer „demokratischen Entscheidung“ für die Hamas gänzlich verweigert wurde. Sie wurden und werden immer noch, ganz im Gegenteil, für ihre Wahl der „Falschen“ sogar brutal bestraft mit einer unmenschlichen, nahezu vollständigen - und krass völkerrechts-widrigen - Blockade.
Daß Netanyahu den Jahrzehnte andauernden „Friedensverhandlungen“ mit seiner klaren Ab-sage an die Zwei-Staatenlösung am Tag vor der Wahl auch offiziell jede Basis entzogen hat, kann den nicht düpieren, der Ben-Gurions Aussage vor dem Zionistenkongreß 1947 (also vor der Staatsgründung!) kennt: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“ Genau dies war Richtschnur aller israelischen Regierun-gen. Selbst für den weiterschauenden Rabin kam ein selbständiger palästinensischer Staat nicht in Frage. Netanyahu hat diese kolonialistische Maxime dankenswerterweise nur noch einmal nachdrücklich in Erinnerung gerufen.
All dies ist Frau Emcke keiner Erwähnung wert, die die internationale Kritik an dieser Politik eher zu bedauern scheint.
Den „Zynikern des Nahen Ostens“ – vermutlich sind das auch diejenigen, die auf diese Zu-sammenhänge verweisen - stellt die Autorin „all jene“ gegenüber, „die Israel lieben“ und „der Kämpfe müde“ seien. Diese Aussage steht zumindest im Widerspruch zu einem Ergebnis der jüngsten, gründlichsten und methodisch anspruchsvollsten „Studie zu Antisemitismus und Israelkritik“ der Universität Konstanz (Lehrstuhl Wilhelm Kempf) von 2012. Dieses ein-deutige Ergebnis lautete: Es gibt wenige, die Partei für Israel ergreifen und den Konflikt friedlich lösen wollen. Wer für Israel eintritt, der befürwortet zumeist gewaltsame Mittel der Konfliktbewältigung.
Letztendlich macht Frau Emcke genau das, was sie den „Zynikern des Nahen Ostens“ vor-wirft, sie geht in wohlklingender, vordergründig-empathischer Abstraktion über die „konkre-ten Menschen“ hinweg, indem sie es versäumt, diejenigen Umstände zu benennen, die seit Jahrzehnten den Palästinensern grundlegende Menschenrechte vorenthalten.
Vielleicht liest die Autorin einmal den kürzlich in der New York Times erschienenen Artikel des deutsch-israelischen Philosophen Omri Böhm°°, der in wohltuender Klarheit deutlich macht, dass „das deutsche Schweigen zu Israel“ – in dem hier erörterten Sinn – nicht nur ein Verrat an der Kant’schen Aufklärung ist, sondern „den Holocaust als politisch signifikante Vergangenheit .....untergräbt.“
° http://rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_15-2014.pdf
Leserbrief zum Interview „Vorwurf und Vorurteil“ in der SZ vom 8. 11. 2016, S. 32:
Hallo Herr Wetzel,
in Bezug auf Ihr Interview mit dem Antisemitismus-“Experten“ Jan Riebe muß ich leider schon wieder äußerst betrübt feststellen, daß die SZ offensichtlich nicht fähig scheint, ihre Leser sachgerecht zu informieren, denn die Mindestvoraussetzung für eine faire Berichterstattung wäre doch wohl, daß mit den in die Kritik Geratenen geredet wird, anstatt immer nur über sie.
Im Übrigen gibt es reichlich Gründe, die Qualifikation Ihres „Experten“ anzuzweifeln. Da ich dies hier nur sehr kursorisch leisten kann, erlaube ich mir, Ihnen im Anhang meine knappe Zusammenfassung der (von dem mittlerweile emeritierten Prof. Wilhelm Kempf geleiteten) „Konstanzer Studie“ (von 2012) zu übersenden. Allein die Tatsache, daß Herr Riebe diese bisher gründlichste empirische Untersuchung des Zusammenhangs von „Antisemitismus und Israelkritik“ nie erwähnt, läßt darauf schließen, daß er sie entweder nicht kennt – was ihn als „Fachmann“ diskreditieren würde -, oder sie verschweigt, weil sie möglicherweise nicht in seinen ideologischen Kram paßt, was ihn als ernst zu nehmenden Wissenschaftler vollends disqualifizieren würde.
Der entscheidende Befund der Studie lautet:
„Die weit verbreitete Annahme, wonach Antizionismus eine Spielart von Antisemitismus ist, fand ... keine empirische Bestätigung….Menschenrechtsorientierte Israelkritiker ... stehen antisemitischen Vorurteilen … ablehnend gegenüber.“
Schließlich noch zwei Klarstellungen:
Zum einen stellt die BDS-Kampagne - entgegen der Behauptung von Herrn Riebe - keineswegs das Existenzrecht Israels in Frage, sondern im Untertitel des BDS-Aufrufs heißt es unmißverständlich: "Die Palästinensische Zivilgesellschaft ruft zu Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen gegen Israel auf, bis es internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt.“
Das heißt: Sobald Israel die völkerrechtswidrige Besatzung der 1967 (mit einem Präventivkrieg) eroberten Gebiete beendet, ist auch die BDS-Kampagne an ihr Ende gekommen.
Genau diese Position machen auch wir uns zu eigen.
Zum andern wird uns immer wieder einseitige Israelkritik vorgeworfen. Dies angesichts der Tatsache, daß gerade in Deutschland seit dem Kriege die historisch nachvollziehbare philosemitische Einstellung gegenüber Israel zu einer nun wirklich höchst einseitigen Identifikation mit dem „Staat der Juden“ geführt hat und leider auch zur Weigerung, die Tatsachen (etwa die „ethnische Säuberung Palästinas“) zur Kenntnis zu nehmen. Diese werden von zionistischer Seite schlicht geleugnet, so daß die Forschungsergebnisse von v. a. israelischen Wissenschaftlern dann bei den falschen Israelfreunden zumindest als „umstritten“ gelten.
Der junge israelisch-deutsche Philosoph Omri Böhm hat im März 2015 in der New York Times (http://opinionator.blogs.nytimes.com/2015/03/09/should-germans-stay-silent-on-israel/?hp&action=click&pgtype=Homepage&module=c-column-top-span-region®ion=c-column-top-span-region&WT.nav=c-column-top-span-region&_r=0) den deutschen Intellktuellen (insbesondere Jürgen Habermas) vorgeworfen, dass ihr „Schweigen zu Israel“ – und dazu gehört auch das Beschweigen der Realitäten in Palästina – nicht nur ein Verrat an der Kant’schen Aufklärung ist, sondern „den Holocaust als politisch signifikante Vergangenheit .....untergräbt.“
Und zur im Interview angesprochenen Problematik des Zionismus hat Omri Böhm
im Februar desselben Jahres in einer Sendung des Deutschlandfunks darauf hingewiesen, daß „Zionismus nicht vereinbar [ist] mit humanistischen Werten“ (http://deutschlandfunk.de/philosoph-omri-boehm-zionismus-nicht-vereinbar-mit.1184.de.html?dram:article_id=306399).
Gruß
Jürgen Jung