Offener Brief
„Wenn der Staat Familie spielen will – dann bitte mit mehr Herz
und weniger Behörden-Callcenter.“
Sehr geehrte Verantwortliche,
Der Staat hat sich einst auf die Fahne geschrieben, sozialer zu sein als die
Familienstrukturen früherer Generationen. „Niemand soll allein gelassen werden“, hieß
es. „Wir fangen euch auf“, hieß es. „Wir kümmern uns.“
Nur – kümmern sieht heute anders aus: Man wird nicht mehr von der Tante umsorgt,
sondern von einem Automaten gefragt, ob man seine Unterlagen auch in der richtigen
PDF-Größe hochgeladen hat.
Wer heute krank, alt oder arm ist, der darf sich durch digitale Dschungel schlagen,
Formulare ausfüllen, mit Chatbots ringen, und am Ende vor verschlossenen Bürotüren
stehen – mit der Aufschrift: „Bitte nutzen Sie unsere App. Persönliche Vorsprache nicht
möglich.“
Das System will wie eine Familie sein? Dann soll es auch zuhören wie eine Mutter,
handeln wie ein Vater, und nicht wie ein schlecht gelaunter Sozialroboter mit
Ladehemmung.
Ich habe erlebt, wie es ist:
– … wenn die Wohnung verschimmelt, aber das Amt „erst mal Unterlagen“ braucht.
– … wenn man sich mühsam aus dem Krankenhaus zurückmeldet, aber der Bescheid
längst verschickt wurde – ohne Rückfrage.
– … wenn man eine Wohnung in Aussicht hat, aber vorher noch höflich fragen muss, ob
man als erwachsener Mensch überhaupt umziehen darf.
Was läuft hier schief?
Das System hat Menschen nicht mehr im Blick – nur noch Vorgangsnummern,
Bewilligungszeiträume und Soll-Ist-Vergleiche.
Was früher Familien über Gespräche, Unterstützung und Nähe geleistet haben, wird
heute ersetzt durch digitale Fließbandbescheide.
Und wer nicht spurt, fliegt raus – aus der Statistik, nicht nur aus der Wohnung.
Ich bin kein Einzelfall. Ich bin nur eine der wenigen, die den Mut hat, darüber zu
schreiben.
Denn ich habe genug davon, meine Würde an Formulare zu tackern, und meine
Lebensumstände in 1000 Zeichen zu pressen – während woanders Steuergelder in
Maskendeals, Beratungsverträge oder neue Imagekampagnen fließen.
Wenn der Staat Familie sein will, dann soll er auch den menschlichen Teil übernehmen.
Nicht nur den mit dem Mahnwesen.
Randnotiz der Autorin:
In Adelskreisen vergangener Jahrhunderte waren kunstvolle Labyrinthe eine beliebte
Form höfischer Belustigung.
Heute findet man sie erneut – in modernisierter Form – im Rathaus.
Dort allerdings sind sie nicht aus Hecken gebaut, sondern aus Behördenwegen,
Antragsformularen und zuständigkeitsverwirrten Sachbearbeiter*innen,
geziert vom amtlichen Wappentier: dem Amtsschimmel in Dienstkleidung.
Wer es bis zur Mitte schafft, bekommt keinen Preis – nur einen neuen Antrag.
Mit freundlichen, aber sehr wachen Grüßen
Bianca Geiß
Wenn der Staat Familie spielen will – dann bitte mit mehr Herz und weniger Behörden-Callcenter.
- von Bianca Geiß
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