Ich gehöre vermutlich zu der Minderheit, die diesen „Warnstreik“ nicht „verständnisvoll“ unterstützt, sondern ihn vehement verurteilt. Trotzdem ist völlig klar, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und im Transportwesen höhere Löhne dringend benötigen, vor allem in den unteren und mittleren Entgeltgruppen. Diese Meinung ist innerhalb der Bevölkerung unumstritten! Aber dieser „Mega-Warnstreik“ von ver.di und EVG, „den es in dieser Form noch nie gegeben hat“ (siehe Internet-Auftritt von ver.di) sprengt jegliche Grenzen, die einem derartigen Vorgehen moralisch und ökonomisch gesetzt sind.
Und wen wollen die Gewerkschaften eigentlich „warnen“? Die öffentlichen Arbeitgeber? Das ist m.E. unsinnig. Im Bereich des produzierenden Sektors bzw. bei allen Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen unter marktwirtschaftlichen Aspekten anbieten, mag solch ein Vorgehen große Wirkung zeigen. Diese Betriebe wollen Umsätze und Gewinne erwirtschaften und schon ein Tag Stillstand hinterlässt eine merkliche Lücke in diesem Bestreben. Doch im öffentlichen Dienstleistungsbereich ist Gewinnstreben eher ein marginaler Faktor und ein Streik ein wenig probates Mittel, um Druck auszuüben. Wer leidet eigentlich unter diesem Streik, wer fühlt sich unter Druck gesetzt und wer wird letztlich zu unfreiwilligen Handlungen genötigt?
Eltern werden genötigt, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um ihre Kinder zu betreuen, weil Kitas und Kindergärten bestreikt werden. Der bayerische Kultusminister sieht sich genötigt, Schulkindern das „Schwänzen“ zu erlauben, weil der ÖPNV ausfällt. Lehrkräfte werden genötigt, wichtige, geplante Leistungsablagen zu verschieben, weil zu viele Schüler*innen fehlen. Das ist bei gekoppelten Klassen oder kurz vor Abschlussprüfungen ein richtiges Ärgernis.
Ein Vertreter von ver.di wagte die Behauptung, „man solidarisiere sich mit den Klimaschützern“. Das ist geradezu pervers, wenn Hundertausende von Pendlern genötigt werden, wieder auf ihr Auto umzusteigen und diese in Staus auf verstopften Straßen jede Menge CO2 ausstoßen. Es wäre interessant zu wissen, wieviel Treibhausgase an einem derartigen Streiktag zusätzlich in die Atmosphäre gelangen.
Manche Arbeitnehmer sehen sich genötigt, gar unfreiwillig einen Urlaubstag zu opfern, weil ihnen die Alternative zum ÖPNV fehlt, überhaupt ihren Arbeitsplatz zu erreichen.
Hunderttausende von Reisenden (Flugzeug und Bahn) sehen sich genötigt umzubuchen, wenn das überhaupt möglich ist oder die Reise schlimmstenfalls zu stornieren und finanzielle Verluste in Kauf zu nehmen. Diejenigen, die noch vor Beginn des Streiks eine Reisemöglichkeit ergattern konnten, sind genötigt, eventuelle zusätzliche Hotelkosten aufzubringen.
Warum verwende ich die Vokabel „nötigen“? Die sogenannten „Klimakleber“ werden wegen „Nötigung“ zu Geldstrafen oder gar Haft verurteilt. Der Schaden, den sie dabei verursachen, ist eher marginal. Die Schäden, die von ver.di und der EVG mit ihrem übertriebenen, jedoch grundgesetzlich legitimierten „Warnstreik“ in der gesamten Volkswirtschaft verursachen, dürfte in die Millionen gehen. Rechtliche Folgen stehen ihnen dafür nicht ins Haus. Es kommt einem der Spruch vom „zweierlei Maß“ in den Sinn.
Wir können konstatieren, dass im wahrsten Sinn der Worte der gewerkschaftliche Slogan zutrifft: „Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still“. Wer diese Macht besitzt, sollte nicht nur Unterstützung für die zu vertretende Klientel pflegen, sondern auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen, statt - wie Herr Werneke durch seinen profilneurotischen Auftritt - Chaos im ganzen Land zu verursachen. Gibt er, wie am Montag berichtet, auch noch das Statement ab, der „Warnstreik“ sei angemessen und verhältnismäßig, hat er völlig die Realität aus seiner Wahrnehmung verloren.
Ja, selbst wenn ver.di sein Ziel von 10,5 % mehr Lohn oder mindestens 500 € mehr erreichen würde, sind die Folgen nicht abzusehen. Als Beispiel sei die Stadt Regensburg genannt: Sie hat ca. 4200 Beschäftigte. Sollten sie 500 € im Monat mehr erhalten, wäre das für die Arbeitnehmer wohl ein ordentliches Plus. Doch woher kommen die rd. 25.000.000 € allein an zusätzlichem Lohn, die die Stadt aufbringen müsste. Werden Sparmaßnahmen fällig (Schulsanierungen verschieben, Sportvereine nicht mehr unterstützen, Verbesserung der Infrastruktur einschränken, Bau von Fahrradwegen canceln, usw.) oder erhöht man Gebühren für Kitas und Kindergärten bzw. Steuern (Hebesatz Gewerbesteuer oder Grundsteuer)? Es wird spannend, die Reaktionen weiter zu verfolgen und wer anschließend jene wieder zuerst moniert.
Die Gewerkschaften haben Recht, wenn sie anprangern, dass viele Anbieter in allen Konsumbereichen die krisenhaften Situationen der letzten Jahre schamlos ausgenutzt haben, die Preise über Gebühr anzuheben, riesige Gewinne einzusacken und damit die Inflation (mit)verursacht zu haben. Die Gewerkschaften können aber auch nicht die Wirkung einer Lohn-Preis-Spirale mit lapidaren Schuldzuweisungen an die kommunalen Arbeitgeber von der Hand weisen.
Zurückhaltendes, verantwortungsbewusstes Handeln wird von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite erwartet, um einen Arbeitskampf mit unabsehbaren negativen volkswirtschaftlichen und damit auch gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang kann man die vereinzelten Äußerungen durchaus verstehen, die eine Regelung von Warnstreiks fordern, also eine Beschneidung der gewerkschaftlichen Macht.
Klaus Kopp