gerade habe ich begonnen ein Buch unseres Altkanzlers, Helmut Schmidt, zu lesen (Außer Dienst), das mich schon auf der zweiten Seite dazu bewogen hat, Ihnen einen Brief zu schreiben. Und ich schreibe ihn nicht nur Ihnen sondern allen Bundestagsabgeordneten. Der entscheidende Satz für meinen Brief lautet:
„Schon vor langer Zeit habe ich mir den alten römischen Satz zur Richtschnur gemacht: Salus publica suprema lex. Inzwischen habe ich begriffen, dass die Maxime vom öffentlichen Wohl als dem obersten Gebot für manche Politiker – und ebenso für mache Manager – nicht zu gelten scheint; sie räumen ihrer persönlichen Geltung, ihrer persönlichen Macht oder auch ihrem persönlichen Reichtum offenbar vorrangige Bedeutung ein. Zwar kann man aus Grün den Vernunft und der Moral zu durchaus verschiedenen Meinungen darüber gelangen, was in einer konkreten Situation im Sinne des Gemeinwohls geboten ist. Aber – und auch das habe ich im Laufe meines Lebens gelernt – sowohl die Demokratie im Inneren als auch der Friede im Äußeren verlangen die Bereitschaft zu Kompromiss und Toleranz.
Die Verantwortung eines Politikers ist nicht abstrakt. Vielmehr ergibt sie sich immer wieder aufs neue sehr konkret und oft bedrückend. In jeder Lage, vor jedwedem Problem, in jedem Streit, immer wieder muss er eine Antwort finden: Was ist hier und jetzt meine Aufgabe und meine Pflicht? Was ist meine Pflicht, wenn zwei oder mehr Interessen miteinander kollidieren? Hat etwa ein persönliches Interesse oder das Interesse meiner Partei Vorrang? Und wenn das Interesse der Nation Vorrang hat, was liegt dann konkret im Interesse der Nation?“
Der momentane Zustand unserer Welt in Friedens-, Gerechtigkeits- oder Umweltfragen belasten mich, wohl auch die meisten Menschen in unserem Land und weltweit sehr.
Seit Wochen sind die Nachrichten voll von Krieg, Krankheit und Umweltzerstörung. In meinem ganzen Leben (ich bin 74 Jahre alt) hat es nicht eine solche Flut von negativen Er-eignissen und den Nachrichten daraus gegeben. Und ich frage mich: Wie gehen Sie, Sie ganz persönlich mit der Verantwortung für Ihre politischen Entscheidungen um?
Keine Ahnung, ob Sie meinen Brief zu Ende lesen oder ob Ihnen die vielen Gedanken einer alten Frau zu viel sind – ich muss sie dennoch loswerden. Es geht mir dabei nicht um partei-politische Überzeugungen, es geht auch nicht darum, ob man ein Problem so oder so lösen sollte, weil die Parteilinie es so fordert. Es geht um persönliche Verantwortung für das eigene Handeln. Und das scheint mir bei vielen Entscheidungen nicht im Vordergrund zu stehen.
Für eine Politikerin/eine Politiker ist es leicht zu sagen: „Ich übernehme die volle Verant-wortung!“, denn es kostet ihn ja nichts. Selbst wenn er/sie die politische Laufbahn beenden sollte, ist sie/er inzwischen so gut abgesichert, dass die sogenannte Verantwortung nicht wirklich belastet. Es gibt keinen Abgeordneten, keine Abgeordnete, der/die unabgesichert aus dem Parlament ausscheidet. Und es gibt auch nur äußerst selten öffentlich Bedienstete, die Verantwortung in letzter Konsequenz für ihre Fehlentscheidungen übernehmen müssen. Anders als in allen anderen Bereichen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, muss sie/er sich nicht mit existenziellen Problemen auseinandersetzen.
Wie sieht es also mit Ihrer Verantwortung für die Freihandelsabkommen aus, die zukünftige, demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente in eine Zwangsjacke stecken, in der Mehrheitsentscheidungen nicht mehr durchgesetzt werden können, weil private Gerichte
künftige Regierungen in’s finanzielle Desaster stürzen können? Als Sie, ja – Sie persönlich in die Politik gegangen sind, wollten Sie da nicht Verantwortung übernehmen? Hatten Sie nicht einen Funken von Idealismus in sich (für welche Richtung immer) und wollten Sie nicht etwas „zum Guten“ verändern?
Wie sieht es mit Ihrer Verantwortung aus, wenn das Gesetz nur den Besitz (und eine be-sondere Auswahl von Besitzenden) schützt nicht aber den Menschen? Wenn unrechtmäßig oder durch Ausbeutung erworbenes Geld dem Besitzenden verbleibt und nicht zum Wohle der Menschen eingesetzt werden muss, wenn Spekulanten auf Kosten des Allgemeinwohls den Steuersäckel schröpfen dürfen, wenn Gesetze nicht mehr die Freiheit des Menschen sondern nur die des Geldes schützen (Menschen dürfen sich nicht überall niederlassen, Geld schon!)
Ich frage mich, hört Ihre persönliche Verantwortung auf vor dem Fraktionszwang und davor, dass man ja ein Gesetz beschlossen hat. Im Bundestag werden in jeder Legislaturperiode ca. 400 Gesetze verabschiedet. Dazu kommen die Gesetze in den Landtagen und Verordnungen der Kommunen. Werden auch ebenso viele Gesetze gestrichen? Was soll eine Gesellschaft mit einem Wust an Gesetzen, die oft genug nicht eingehalten werden, weil der Staat sie gar nicht überwacht. Was soll eine Gesellschaft mit einem Wust an Gesetzen, die alles bis ins Detail regeln wollen und in Wirklichkeit unser Leben nur behindern weil sie viel zu komplex sind, weil unser Leben viel zu komplex ist.
Jedes Gesetz, das verabschiedet wird, entbindet aber die Abgeordneten von ihrer Verant-wortung. Sie können sich getrost sagen: „Wir haben alles zur Regelung unternommen, wir haben ja ein Gesetz gemacht.“ Aber es gibt Dinge im Leben, die lassen sich nicht allgemein-gültig regeln. Wenn man das tun will, entzieht man sich nur der persönlichen Verant-wortung. Die aber wollten Sie doch mal übernehmen! Mit jedem Gesetz schützen Sie sich selbst vor dieser Verantwortung.
Angesichts des Krieges in Europa, angesichts der massiven Umweltprobleme, die seit Beginn der 80er Jahre bekannt sind, angesichts der Flüchtlingsströme ist es Ihre Verantwortung Wege zu finden und zu eröffnen, die unser aller Zusammenleben auf diesem Planeten mög-lich macht. Und dazu gehört auch, sich und die eigene Position ständig zu hinterfragen und nicht der Mehrheitsmeinung unterzuordnen. Und wenn man sich fragt: „Was ist bei meiner Entscheidung gut für UNSERE Wirtschaft, muss man sich auch fragen, was ist der Mehrwert für die andern, für die Drittweltländer, für die Umwelt, für Gerechtigkeit und Frieden?“
Sie sind nicht Abgeordnete der Automobil- oder Pharmaindustrie, Sie sind nicht Abgeordnete der Mittelstandsvereinigung oder irgendwelcher sonstiger Lobbyverbände. Sie sind nicht Abgeordnete Ihrer Familie oder persönlichen Interessen. Sie sind Abgeordnete des (deutschen) Volkes!
Vor ihm müssen Sie sich verantworten, vor niemandem sonst. Es ist für die Bürgerinnen und Bürger nicht nachvollziehbar, dass z. B. ein ehemaliger Ministerpräsident angeblich zwar die volle Verantwortung übernimmt für ein Finanzdesaster in Rheinland-Pfalz oder ein ehe-maliger Verkehrsminister die Verantwortung trägt für die Schadenersatzforderungen der Mautbetreiber aber keiner von beiden Konsequenzen zu fürchten hat.
Wer trägt die Verantwortung für ein Schiedsgericht, das im Geheimen seine Entscheidungen fällt und das jetzt über diese Schadenersatzforderungen entscheidet, Und das Volk, das Sie durch Ihre Wahl mit einem Vertrauensvorschuss hinsichtlich Ihrer Verantwortung ausge-stattet hat, weiß nicht einmal, ob es sich in diesem Fall um ein ordentliches Gericht handelt.
Sie tragen die Verantwortung auch für unsere funktionierende Demokratie, die davon lebt, dass Entscheidungen nachvollziehbar sind. Sie tragen die Verantwortung für Politikmüdig-keit und für ein Denken „die da oben, wir hier unten – die machen ja doch was sie wollen“.
Nehmen Sie mir den langen Text bitte nicht übel – Sie haben Glück (!), ich hätte noch seitenweise mehr schreiben können. Sollten Sie sich zu einer Antwort entschließen, verzichten Sie bitte darauf, wenn sie nur beinhaltet: „Ich habe mit Interesse gelesen und kann Ihnen versichern …“ . Als Bürgerin dieses Landes erwarte ich, dass Sie Ihrer Verant-wortung gerecht werden und die Folgen Ihres Handelns mit allen Konsequenzen tragen.