Sehr geehrte Damen und Herren,
wer mit seinem Handy protzen wollte, hatte ein Nokia. In der Fußball-Bundesliga war Schalke 04 amtierender Vizemeister. US-Präsident war seit knapp fünf Jahren George W. Bush.
So war das damals, am 22. November 2005. Dem Tag, seit dem Angela Merkel ununterbrochen deutsche Bundeskanzlerin war.
16 Jahre Merkel: Wer heute jünger als 25 ist, erinnert sich nicht oder kaum an eine andere Regierungschefin. Wer Anfang oder Mitte 30 ist, den hat Merkel oft vom Schulhof bis zur Hochzeit oder Familiengründung begleitet. Was bleibt von dieser Kanzlerin? Wie hat sie Deutschland verändert? Welches Land hinterlässt sie jungen Erwachsenen?
Angela Merkel 2005, das war eine Frau, die vielen als dröge Konservative galt. 2001 hatte sich ein Autovermieter in einer legendären Werbekampagne über ihre Prinz-Eisenherz-Frisur lustig gemacht.
Merkel war umstritten, weil sie für einen ziemlich radikalen Umbau von Steuer-, Sozial- und Gesundheitssystem war. Und sie wurde unterschätzt.
Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder polterte am Wahlabend 2005 seine Partei würde niemals in eine Regierung unter Merkel eintreten. Zwei Monate später passierte genau das.
2021 gilt Angela Merkel in Teilen der Welt als feministische Ikone.
Sie sei die "Anführerin der freien Welt", das schrieben nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten mehrere englischsprachige Medien über sie.
2019 hielt sie eine Rede an der US-Eliteuniversität Harvard, vor der sie in einem kurzen Clip wie ein Popstar der Politik präsentiert worden war. Und Merkel ist seit dem Jahr 2011 bei Grünen-Wählern noch mehr beliebt als bei denen von CDU und CSU.
Die Frage "Ist Deutschland bereit für eine männliche Kanzlerin?" ist inzwischen ein reichlich ausgelutschter Witz.
Es waren 16 Jahre, in denen sie ihre Macht eiskalt verteidigte, in denen aber nicht der Hauch eines Verdachts der persönlichen Bereicherung gegen sie aufgekommen ist.
Angela Merkel hat viele Talente, von ihrer Machtintelligenz bis zu ihrer strategischen Klugheit und Ausdauer. Eine große Rednerin war sie aber nie. Im Gegenteil.
Trotzdem gibt es Sätze und Wörter von ihr, über die man wohl noch in Jahrzehnten sprechen wird.
"Alternativlos" ist so ein typisches Merkel-Wort. Ein Wort, hinter dem eine Haltung steckt, mit der sie immensen Schaden angerichtet hat, gerade für junge Menschen.
Merkel hat vor allem ab 2009 immer wieder Lösungen "alternativlos" genannt. Das war im Zusammenhang mit der sogenannten Euro-Krise, während der mehrere südeuropäische Staaten und Irland jahrelang Gefahr liefen, zahlungsunfähig zu werden und in denen Menschen dramatisch verarmten.
Staatliche Hilfe für deutsche Banken? Heftige Einschnitte für Rentner und brutale Sparmaßnahmen für Krankenhäuser in Griechenland? Die Rettung des Euro als Währung?
Laut Merkel damals alles "alternativlos". Es war ein falsches Wort. In der Politik ist fast nie etwas "alternativlos", Handlungsalternativen gibt es fast immer.
Es gibt hervorragende und katastrophale Alternativen, es gibt viel dazwischen. Und in einer Demokratie wird darüber gestritten, welche Alternative gut und welche schlecht ist.
Es hätte ja Alternativen zur Euro-Rettung gegeben. Nur wären die meisten davon für Deutschland vermutlich sehr schlecht geendet. Als Merkel aber "alternativlos" sagte, gab sie vor, dass der Streit überflüssig sei und dass man die eigene Lösung gar nicht erklären müsse. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
In Deutschland ist es nicht gut gegangen. "Alternativlos" wurde zum Unwort des Jahres 2010. 2013 gründeten 18 Menschen die "Alternative für Deutschland". Der Parteiname Ist eine ausdrückliche Antwort auf das Merkel-Wort "alternativlos".
Alternativlos", dahinter steckte eine Haltung, die einen wesentlichen Teil der Merkeljahre bestimmt hat.
Die Bundestagswahlen 2009, 2013, 2017? Eigentlich war jedes Mal Wochen vorher klar, dass die Union gewinnen würde. Aufbruch- oder Wechselstimmung? Gab es nicht, außer in den wenigen Wochen Anfang 2017, in denen der Schulz-Zug durchs Land raste, als die SPD dank ihres Spitzenkandidaten Martin Schulz kurz sogar CDU und CSU in den Umfragen überholte und kurzzeitig Hoffnung auf ein Ende der Merkel-Jahre aufkeimte.
Indem sie die eigene Politik als "alternativlos" verkaufte, hat Merkel auch Streit um Zukunftsfragen erschwert. Und dazu beigetragen, dass in Deutschland jahrelang übersehen wurde, dass man wertvolle Zeit verloren hat: bei der Digitalisierung, der Infrastruktur, beim Klimaschutz, in der Verteidigung gegen Demokratiefeinde im In- und Ausland und bei der Zukunftssicherung der Rente.
Den Preis dafür zahlen gerade junge Menschen: Weil die Internetverbindungen in vielen Ecken Deutschlands immer noch jämmerlich sind. Weil Merkel, die sich 2007 vor den schmelzenden Eisbergen von Grönland als Klimakanzlerin inszenierte, sich 2013 in der EU dreist gegen strengere Abgasgrenzwerte für deutsche Autokonzerne eingesetzt hat und weil sie dann erst ab 2019, unter dem Druck von Fridays for Future und einem großen Teil der Öffentlichkeit Gas beim Klimaschutz gegeben hat.
In Deutschland wurde in den vergangenen Jahren „Hollandaise aus Konsens" serviert, es wurde kaum mehr richtig politisch gestritten im Land. Das hat radikalen Bewegungen Vorschub geleistet.
Jetzt ist die Merkel-Zeit, aus meiner Sicht, endlich zu Ende.
Vieles ist in den 16 Jahren, wenn überhaupt, viel zu langsam vorangegangen:
In der Corona-Pandemie hat sich einmal mehr gezeigt, wie schwer sich der deutsche Staat mit Krisen tut, mit schnellen, unvorhersehbaren Entwicklungen.
Es bleibt eine Schande für Deutschland, wie viele junge Menschen hier in Armut eben und dass Karrierechancen weiter so stark vom Geldbeutel der Eltern abhängen wie in kaum einem zweiten Industriestaat.
Auf die neue Bundesregierung und das Land kommen nach 16 Jahren Merkel gigantische Probleme zu.
Freundliche Grüße
Alfred Kastner