Hätte sich Herr Markus Grabitz an diese Vorsicht gehalten, hätte er diese überschwängliche Lobeshymne auf alles, was zur Impf-Strategie gehört nicht schreiben dürfen. Sein letzter Satz, die Operation Impfen muss als ganz großer Erfolg der EU gelten, ist genau so ein frühes Urteil über eine Operation, die sich erst in der Zukunft abspielen wird.
Ich verstehe Herrn Grabitz, wenn seine Absicht war, mit so einer euphorisierten Geschichte mal gegen all die schlechten Nachrichten anschreiben zu wollen, die uns täglichen zum Thema Sars-CoV-2 erreichen. Das ist nachvollziehbar. Mir ist es allerdings schwer gefallen, das Lesen der Kolumne bis zum Ende durchzuhalten.
Es beginnt mit der etwas altklugen Feststellung, dass es leicht sei, im Nachhinein mit dem Finger auf die Handelnden zu zeigen. Ich halte es dagegen geradezu für notwendig, das zu tun, insbesondere, wenn die Handelnden gemachte Fehler durch Nebelkerzen aus der öffentlichen Diskussion heraushalten wollen.Aus Fehlern lernt man eben nur dann, wenn man sie eingesteht und hart an den Konsequenzen arbeitet. Vertuscht man sie, lernt man gar nichts, zumindest nichts Gutes und wird denselben Fehler wieder machen.Herr Grabitz schreibt, aus medizinischer Sicht müssen die Bürger wenig Sorge haben. Das trifft wohl exakt für die fast 1000 Toten zu, die wir täglich zu beklagen haben. Die müssen sich in der Tat keine Sorgen mehr machen. Jeder Fehler, der die Impfkampagne um nur einen Tag nach hinten verzögert, wird in der Bilanz diese schreckliche Anzahl an Menschenleben gekostet haben.
Mit welcher Chuzpe man angesichts dieses Opfers um die handwerklichen Fehler bei der Beschaffung herum argumentiert, bereitet mir fast körperliche Schmerzen.2,3 Milliarden Dosen hat die EU eingekauft, für 450 Millionen! Ein VIELFACHES, dessen was gebraucht wird, meint Herr Grabitz. Welche Algebra benützt er zu dieser Rechnung? Teilt man diese beiden Zahlen, kann man gerade mal zweieinhalb Impfzyklen damit bestreiten, unter der Annahme, dass man die Impfung jedes Jahr braucht und jeder zweimal geimpft werden müsste.
Dazu kommt, dass die EU große Mengen an Impfstoff geordert hat bei Firmen, die überhaupt kein Produkt anbieten können, wie z.B. die Fa. Sanofi., zumindest nicht im Jahr 2021. Man muss kein Pharmakologe sein, um nach Studium der Projektpläne der einzelnen Firmen den Abschluss der Phase III und den Termin der frühestmöglichen Zulassung gut prognostizieren zu können. Dies Pläne lagen vor. Und auch zum Zeitpunkt der Verhandlungen waren diese Daten verfügbar. Auch der in Führung liegende Kandidat, die Fa. Biontec/Pfizer war einfach auszumachen.
Trotzdem hat die Brüsseler Verhandlungsführung die angebotene Liefermenge dieser Firma ausgeschlagen zugunsten anderer Anbieter, die erst sehr viel später (und nur, wenn wir alle Glück haben) lieferfähig sein werden. Die Logik dieser Entscheidung zu erklären wäre nur fair.
Stattdessen wird stets die Richtigkeit der Entscheidung beschworen die EU mit der Beschaffung zu beauftragen, obwohl das niemand in Frage gestellt hat.
Herr Grabitz lobt, dass die EU aus über 100 Anbietern die 6 vielversprechendsten ausgewählt hat. Ist das eine erwähnenswerte Leistung? Sputnik ist da wohl aussortiert worden. Wurde womöglich auch Ivermectin, das Parasitenmittel mitgezählt oder gar die Hersteller von Desinfektionsmitteln, die Herr Trump zur Injektion empfohlen hatte?
Trotz aller Kritik an diesem unausgewogenen Artikel hoffe ich, dass Herr Grabitz mit seinem Blick in die Glaskugel richtig liegen möge. Zu sehr sehnen wir uns alle wieder nach einem normalen Leben.
Dr. Rainer Schneider
„Vorsicht vor frühen Urteilen“ vom 30.01.2021, Stuttgarter Zeitung.
- von Dr. Rainer Schneider
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