Naziverbrechen: Kommentar zum Prozess gegen Bruno D. (93) vor dem OLG Hamburg
Die Kleinen werden gehangen …
von H. Jürgen Hoffmann, Autor und Schriftsteller, Köln
In meinem Kommentar geht es um einen Bericht von Thorsten Fuchs im Kölner Stadt-Anzeiger vom Samstag, 26. 10. 2019, unter der Überschrift: „Bruno D. hörte ‚Schreie und Poltern‘“
Siehe hierzu ebenfalls den Artikel von Thorsten Fuchs im Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) vom 17.10.2019 unter: https://rnd.de/politik/ns-verbrechen-die-schuld-des-bruno-d-7RWORXL5I5EZ5JRGCIWJ3BDKB4.html
Vorweg: Die Vorgehensweise der Nazis von früher und heute ist aus meiner Sicht grundsätzlich zu verurteilen und zu ächten. Die Ermordung von Millionen Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und vieler anderer Menschen während der Hitlerdiktatur, gehört zum Abscheulichsten in der Geschichte Deutschlands, in der Geschichte der Menschheit überhaupt.
Vermutlich muss sich in diesen Tagen einer der letzten sogenannten Kriegsverbrecher vor der Jugendstrafkammer des Oberlandesgerichts in Hamburg für die Beihilfe zum Mord an 5230 Fällen verantworten. Der heute 93-jährige Bruno D., damals, von August 1944 bis April 1945, war als 17-jähriger im Konzentrationslager Stutthoff (heutiges Polen) als Wachmann eingeteilt. Wohlgemerkt: Als 17-jähriger!
„Er war nur ein kleines Rädchen im Getriebe der NS-Mordmaschinerie, aber ohne diese Rädchen hätte die Maschine eben nicht funktioniert, argumentiert die Anklage.“ Das schreibt Herr Fuchs als wörtliche Rede des Anklägers. Und weiter schreibt er: „Vor allem aber beteuert er immer wieder, zunehmend zur Fassungslosigkeit der Richterin, er habe all die eindeutigen Zeichen nicht zu deuten gewusst.“ Und die Anklage setzt laut Herrn Fuchs noch einen drauf: D. hätte sich „straflos (…) versetzen lassen können.“
Straflos? Wie kommt die Anklage zu dieser Annahme? Was ist das für eine Fassungslosigkeit der Richterin?
Fehlt es hier nicht an analytischen Fähigkeiten? Fehlt es etwa an geschichtlichem Eintauchen in jene Zeiten, über die wir aus heutiger Sicht urteilen? Wohlgemerkt: Aus heutiger Sicht!
Vielleicht ist es der Anklage, vielleicht auch der Richterin entgangen, dass es zu Bruno D.s Zeiten keine liberale Erziehungspolitik gab. Weder in den Familien, noch in der Form abscheulichster Politik. Im Gegenteil: Es herrschte eine – für die heutige Zeit unvorstellbare – streng-autoritäre Erziehung. Und das nicht erst zur Nazizeit! Wer schon im familiären Umfeld mit Renitenz auffiel, dem wurde diese schnell – durchaus mit drastischen Mitteln - ausgetrieben. Mit welchen drastischen Mitteln auch immer. Wer so erzogen worden ist, wusste sehr schnell, was Angst ist. Und mit Angst lässt sich – gerade auch politisch - noch jede Generation vorantreiben. Sehr zum Nutzen von sogenannten Eliten und anderer Herrschaften.
Im Fall Bruno D. steht ein damals noch nicht einmal volljähriger junger Mann vor Gericht, dem jedes Aufbegehren, jedes Mucken, jede Infragestellung weitere schmerzliche Wunden zugefügt worden wären. Oder gar den Tod. Die allermeisten jener damals jungen Menschen wurden bereits in den Schulen genötigt, der Hitlerjugend beizutreten oder dem Bund Deutscher Mädel. Woher also die Fassungslosigkeit der Richterin? Woher kommt der suggestive Ansatz der Anklage, „ohne diese Rädchen hätte die Maschine eben nicht funktioniert“? Steht das Urteil schon fest, ohne dass es verkündet worden ist?
Gerade die deutsche Justiz hat Jahrzehnte benötigt, um ihre eigene braune Geschichte aufzuarbeiten. Vor allem auch ihre Geschichte in der neugeschaffenen bundesrepublikanischen Gesellschaft. Das war auch in anderen Bereichen so und oft genug sehr ähnlich. Ehemalige Nazischergen, NSDAP-Mitglieder (zu Beginn der Machtübernahme 1933 bereits 29 Jahre alt) konnten gar Bundeskanzler werden. Oder als einstiger NS-Marinerichter, der 1943 / 1945 als 30-/32-jähriger Todesurteile im Sinne der Nazis fällte, konnte gerne auch Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Und wo haben sie in der Bundesrepublik nicht überall mitgemischt, die Hauptdrahtzieher und Hitlergläubigen wie die Globkes, die Flicks und Henkels, andere der vielen Industriellen, viele der sogenannten Adligen? Sie waren die wahren Verbrecher, die der mörderischen Propaganda geholfen und unterstützend gewirkt hatten. Sie haben dem Morden nicht nur zugeschaut, sondern zum eigenen Vorteil Zwangsarbeiter rekrutiert und/oder vernichtende Urteile gefällt. Die deutsche Justiz und ein von Zynismus zerfressener Richter Freisler. Allesamt Angsterzeuger.
Und diese Justiz will nun über einen damals 17-jährigen Wachmann urteilen? Und diese Justiz ist fassungslos über die Unschuldsbeteuerungen eines damals 17-jährigen?
Ich bin fassungslos!
Die 5230 Toten im KZ Stutthoff, um die es in diesem Fall geht, sind weitere 5230 Tote zu viel. Und in jedem Fall verurteilungswürdig. Aber dass ein einst 17-jähriger Junge hier stellvertretend für die wahren Verbrecher seinen Kopf hinhalten soll, empfinde ich als ungeheuerlich. Als ungeheuerlich empfinde ich auch die – so scheint es mir - arrogante Fassungslosigkeit einer offenkundig analyseschwachen Richterin. Vorausgesetzt, die von Herrn Fuchs beschriebene Gemütsverfassung der Richterin entspricht der Wirklichkeit. Wenn es denn so gewesen sein sollte, wie Herr Fuchs schreibt, scheint mir die Verurteilung des Bruno D. nur noch eine Frage weniger Tage, vielleicht Wochen zu sein. Vorverurteilt scheint er wohl schon zu sein.
Wie wird mit deutscher Geschichte umgegangen? Wo fängt deutsches Recht an? Wo hört es auf? Gibt es einen Spielraum von moralischen Erkenntnissen? Oder bleibt es dabei: Die Kleinen werden gehangen …?
Erbärmlich! Die Herangehensweise deutscher Nachkriegsrichter/innen und –ankläger/innen in einigen besonderen Fällen der Nazizeit scheint offensichtlich immer noch allzu oft erbärmlich.
Ich fasse es nicht.
Mit dennoch freundlichem Gruß an alle
H. Jürgen Hoffmann
Autor und Schriftsteller, Jg. 1949
Diesen Kommentar habe ich per Mail verschickt an:
- Kölner Stadt-Anzeiger
- DER SPIEGEL
- an den Autor Thorsten Fuchs
- an den RA des Beschuldigten
- an das OLG Hamburg