Süddeutsche Zeitung vom 15.02.2013, Seite 15, Titel "Gefährliche Sinnentleerung"
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Wenn ich Andrian Kreyes einigermaßen dunkle Gedankengänge richtig verstehe, dann ist u. a. das Grass-Gedicht Ausdruck „ressentimentgeladener Gedankenlosigkeit“, ein „Ausrutscher“ gar. Mit dieser Einschätzung erliegt Kreye allerdings genau jener „politischen Korrektheit“ deutscher Befindlichkeit, die sich schlicht weigert, die Realitäten in Palästina zur Kenntnis zu nehmen und die völlig falsche Schlußfolgerung aus unserer Geschichte zieht, nämlich: was der Staat Israel tut, muß schweigend hingenommen, darf allenfalls halbherzig kritisiert werden, anstatt: was den Juden damals angetan wurde, darf niemals irgendjemandem mehr widerfahren. Da wird dann groteskerweise die Sicherheit Israels zur deutschen „Staatsraison“ (Merkel) erklärt, was von Altbundeskanzler Schmidt mit Recht als „töricht“ bezeichnet wurde, und Kreye streitet gar ab, daß es bei der Israel-Kritik um die wahrlich kritikwürdigen Tatsachen, „um die Siedlungspolitik Israels und die damit verbundene imperialistische Perfidie“ gehe - wo doch genau diese den Terrorismus hervorbringt, den man dann heuchlerisch beklagt -, „sondern um die antisemitischen Muster in den Köpfen, die immer noch auf den alten Klischees von der jüdischen Weltver-schwörung basieren“. (Woher bezieht Herr Kreye eigentlich diese Kenntnis? ) Die gefährliche Banalisierung, ja Sinnentleerung des Antisemitismusvorwurfs, weil nahezu ubiqitär erhoben, so auch gegen Augstein, scheint Kreye zu entgehen. Folgerichtig beruht dann wohl die Feststellung, daß die „Israellobby“ in den USA in dem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Rolle spielt, was gerade von etlichen Juden und Israelis immer wieder beklagt wird, auf dem antisemitischen Muster einer „jüdischen Weltverschwörung“. Manchmal drängt sich der Verdacht auf, daß sich gerade unsere Philosemiten, und sei es unbewußt, von antisemitischen Motiven leiten lassen, denn wer ohne entschiedenen Einspruch zuschaut, wie Israel „sich selber abschafft“ (so der orthodoxe Israeli G. Gorenberg - die SZ besprach kürzlich sein Buch), ist zumindest kein Israelfreund. Und unsere Meinungsmacher in Medien und Politik, die gerade beim Grass-Gedicht eine peinliche Konsensorgie veranstalteten (Grass selbst empfand sie als „Wolfsgeheul“), sollten langsam beunruhigt sein über die zunehmende Kluft zwischen der „politischen Korrektheit“ unserer veröffentlichten Meinung und der Wahrnehmung immer größerer Teile der Bevölkerung, die das sachlich in allen Punkten zutreffende Gedicht des Nobelpreisträgers – nicht nur die Friedensforschung, die Friedensbewegung hatte all dies längst thematisiert, allerdings wurde es in den etablierten Medien nicht zur Kenntnis genommen – mit überwältigender Mehrheit zu Recht unterstützte.
Dünkel und Empörung (gedruckt)
- von Jürgen Jung
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