Ein Aufatmen geht durch die Politik: die deutsche Bundeskanzlerin hat die Frage, ob Schwule und Lesben heiraten sollten, zur Gewissensentscheidung jedes einzelnen Abgeordneten gemacht. Die Entscheidung traf die Abgeordneten wie ein milder Frühlingsregen nach einem eiskalten, frostklirrenden Winter. Plötzlich und unerwartet, obwohl eine Selbstverständlichkeit, denn im Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes steht: Die Abgeordneten…sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Das Machterhaltungsstreben von Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden hat allerdings zu davon abweichenden Bräuchen geführt. CDU – Generalsekretär Kauder hat durchaus eine klare Vorstellung vom Begriff „Fraktionsdisziplin“, die schlicht und ergreifend grundgesetzwidrig ist. Es gibt noch andere Beispiele des laschen Umganges mit dem Grundgesetz: im Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser mit Blick auf die Lage der Menschheit besonders wichtige Begriff ist leider unmittelbar anschließend im Text des Grundgesetzes nicht definiert worden, so dass er jederzeit zur verformbaren Knetmasse im politischen Streit werden kann. In unseren Wahlkämpfen wird das besonders deutlich, wenn die Kandidaten in der Endphase des Wahlkampfes beginnen, einander mit unflätigen Begriffen zu überschütten. Empfehlung an die Väter des Grundgesetzes und ihre bestellten Nachfolger: Gießen Sie den Text des Grundgesetzes in eine präzise und unmissverständliche Form mit erschöpfenden Definitionen und bestellen Sie einen Hüter dieses Grundgesetzes, der im Falle seiner Missachtung von sich aus tätig wird und nicht erst nach einer Anrufung, die entweder stattfindet oder ausbleibt! Wenn Sie die Fraktionsdisziplin im parlamentarischen Leben für richtig halten, dann schreiben Sie das auch in das Grundgesetz, und wenn nicht, dann lassen Sie bitte auch im parlamentarischen Alltag die Finger davon! Die Fraktionsdisziplin passt nach Meinung des Leserbriefschreibers in einen Ein-Parteien-Staat oder, genauer gesagt, in eine Diktatur! Otfried Schrot, Autor des Buches „Zwanzig Appelle eines Zornigen an die Welt oder Ersatz für den Krieg“
(veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung am 6.7.2017)