Auch Bürger sind oft völlig überrascht, wenn sie erschossen werden
- von Dagmar Schön Rechtsanwältin
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Fatal an dem Artikel von Frau Wimmer finde ich die unausgesprochene Botschaft, dass die Bewaffnung und Schießbereitschaft der Schutzpolizei so wichtig ist, weil wir jederzeit von Verrückten auf der Straße nieder gestochen werden können. Obwohl das theoretisch stimmt, realisiert sich dieses Risiko sehr selten. Den Vorfall auf dem Grafinger Bahnhof kann man deshalb tatsächlich als tragischen Unglücksfall bezeichnen. Keinesfalls begründet dieser Vorfall, dass täglich tausende von jungen Polizisten voll bewaffnet und schiessbereit durch die Straßen unser Städte patrouillieren, weil Messer "so gefährlich" sind.
In Bayern, aber auch in anderen Bundesländern, dürfen die Cops der Schutzpolizei nur zweimal im Jahr ihre Treffsicherheit durch Schießübungen verbessern
Das Risiko, ohne rechtfertigenden Grund von einem Polizisten erschossen zu werden, ist sehr viel höher, als das, von einem psychisch Kranken mit einem Messer angegriffen zu werden.
Seit Jahrzehnten werden jedes Jahr um die acht Bürger von Polizisten erschossen; die Zahl der Verletzten ist wesentlich höher. Meistens hatte die erschossene Person ein Messer in der Hand; dass sie damit auch aktiv die Polizei angegriffen hätte, ist für den Waffeneinsatz gar nicht erforderlich
Klar ist, dass von den Polizisten nach Erschießungen von Bürgern immer Notwehr behauptet wird. Schlimm ist, dass diese Behauptung regelmäßig von der Justiz in Person eines Staatsanwalts noch am selben Tag der Erschießung als wahrscheinlicher Entschuldigungsgrund öffentlich verkündet wird - und dabei bleibt es erfahrungsgemäß.
Es kommt so gut wie nie zu einem Prozess gegen den Polizisten, bei dem überprüft würde, ob auch tatsächlich eine Notwehrsituation vorgelegen hatte. Selbst in einem Fall, wie dem der Erschießung des Musikstudenten Tennessee Eisenberg 2009 in Regensburg, der mit 12 Polizei-Kugeln im Körper, davon die ersten acht von hinten und der Seite, zu Tode kam.
Auch das Bundesverfassungsgericht fand, als letztmögliche Rechtsmittelinstanz von den Angehörigen angerufen, die Notwehrsituation nicht zweifelhaft.
Was können wir alle daraus lernen? Gegen schießende Polizisten hat man als Bürger keine Chance.
Selbst wenn man unbewaffnet ist, können einen von hinten die tödlichen Kugeln treffen, ohne dass in einem Gerichtsverfahren geklärt wird, was da genau passierte. So geschehen bei Andre P. aus Burghausen, der 2014, völlig unbewaffnet, auf dem Weg zu seiner Freundin war, als er in einer Siedlungsanlage, in der sich sogar spielende Kinder befanden, von einer Zivilstreife von hinten in den Kopf geschossen wurde. Genannter Grund hierfür im Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft: Er habe sich durch 'Flucht' der Vollziehung eines Haftbefehls entziehen wollen. Als 'tragischen Unglücksfall' (?) bezeichnet die Staatsanwaltschaft die Erschießung trotzdem.
Mit mehr Berechtigung kann man die Attacke des psychisch Kranken in Grafing auf die Passanten am frühen Morgen als tragischen Unglücksfall bezeichnen; denn psychisch Kranke, sind, anders als bewaffnete Polizeibeamte im Dienst, nicht schuldfähig.
Bisher gehen die kritischen Zusammentreffen zwischen Bürger und Polizei noch immer eher nachteilig, häufig sogar tödlich, für die Bürger als für die Polizei aus.
Anders als bei schießenden Polizisten, wird der Sachverhalt am Grafinger Bahnhof sehr wohl in einem Strafprozess durchleuchtet werden.
Für die Qualität der Rechtsstaatlichkeit sind Tötungen von Bürgern durch Polizei, ohne anschließende gerichtliche Aufklärung, kein 'prima-facie-Beweis' (d. h. ins Auge fallender Beweis).
Gegen den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Traunstein hat die Mutter von André B. Beschwerde zum OLG München einreichen lassen. Jeder Strafverteidiger weiß allerdings, dass solche Beschwerden nicht aussichtsreich sein können, da die örtliche Staatsanwaltschaft sich vor ihrer Einstellungsverfügung bei der Rechtsmittelinstanz versichert, dass man ihren Einstellungsbeschluss nicht aufheben, sondern bestätigen wird. Wichtig sind derartige Beschwerden trotzdem, da man dadurch zeigen kann, wie das System Justiz funktioniert.
Das zum Thema: Wir sind so ein toller Rechtsstaat, weil wir so viele und auch funktionierende Rechtsmittelinstanzen haben. Durch die Praxis wird man eines Besseren belehrt. Oder man liest die wöchentliche Zeit-online-Kolumne von Professor Dr. Thomas Fischer, Vorsitzender des zweiten Strafsenats am BGH in Karlsruhe, in der er viele Rechtsstaatslücken genau und kompetent beschreibt. Erstaunlicherweise ohne jede Wirkung bei den Leuten, die daraufhin tätig werden müssten.
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