Berliner Morgenpost vom 15.02.2015, Leserbriefseite, Titel: "Ursachen des Konflikts bleiben"
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Es gibt Kräfte auf dieser Welt, die keinen Frieden wollen, weil dann die Rüstungsindustrie weniger Aufträge hätte. Außerdem gibt es in allen Teilen der Welt Staaten, deren Grenzen nicht durch den Willen der Völker zustande gekommen sind, sondern durch den Willen von Diktatoren und Kriegsherren. Wir haben also Grund zu der Annahme, dass es Staaten gibt, in denen Bevölkerungsteile zusammenleben, die nichts voneinander wissen wollen – aus welchen Gründen auch immer. Fernsehübertragungen von sich prügelnden Abgeordneten im ukrainischen Parlament sind ein Beleg dafür. Es scheint voreilig zu sein, Wladimir Putin als Ursache allen Übels zu betrachten. Wer ihm unterstellt, dass die Bevölkerung der Ostukraine ausnahmslos aus Marionetten besteht, die nach seiner Pfeife tanzen, irrt. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass eine Bevölkerung, die von Petro Poroschenko monatelang mit Artilleriefeuer belegt worden ist, die Nase von ihm voll hat und endlich in zwei neuen ostukrainischen Staaten zur Ruhe kommen will. Dass Poroschenko monatelang sein Volk hat beschießen lassen, haben wir relativ gelassen hingenommen. Genauso gelassen sollte der Westen den Wunsch der ostukrainischen Bevölkerung nach zwei eigenen Staaten betrachten. Bundeskanzlerin Merkel scheint die Einzige zu sein, die in diesem von Hass und anderen Leidenschaften erfüllten Kommunikationschaos einen kühlen Kopf behält und sich als einzige Vernünftige gegen Waffenlieferungen an Poroschenko stemmte. In Anbetracht der noch nicht zur Ruhe gekommenen Leidenschaften kann man dem vereinbarten Waffenstillstand nur wünschen, dass er eingehalten wird.
Otfried Schrot, per E-Mail
Am Anfang einer Lagebeurteilung müssen wir uns über zwei Dinge im Klaren sein: Erstens: es gibt allezeit Kräfte auf dieser Welt, die keinen Frieden wollen, weil dann die Rüstungsindustrie den Hungertod sterben muss. Zweitens: in allen Teilen der Welt gibt es Staaten, deren Grenzen nicht auf Grund des Willens der Völker zustande gekommen sind, sondern auf Grund des Willens von Diktatoren und Kriegsherren. Wir haben also Grund zu der Annahme, dass es Staaten gibt, in denen Bevölkerungsteile zusammenleben, die nichts voneinander wissen wollen – aus welchen Gründen auch immer. Die zahlreichen Fernsehübertragungen von sich prügelnden Abgeordneten im ukrainischen Parlament sind ein Beleg dafür. Es erscheint also voreilig, Wladimir Putin als Ursache allen Übels zu betrachten. Wer ihm unterstellt, dass die Bevölkerung der Ostukraine ausnahmslos aus Marionetten besteht, die „nach seiner Pfeife tanzen“, dürfte „danebenliegen“. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass eine Bevölkerung, die von dem Schokoladenfabrikanten Petro Poroschenko monatelang mit Artilleriefeuer belegt worden ist, die Nase von ihm voll hat und endlich in zwei neuen ostukrainischen Staaten zur Ruhe kommen will. Wir Deutschen waren vor dem Mauerfall empört, wenn Deutsche auf Deutsche geschossen haben. Dass der Ukrainer Poroschenko monatelang sein eigenes Volk hat beschießen lassen, haben wir relativ gelassen aufgenommen. Die Briten haben Schottland auch nicht den Krieg erklärt, als dort Unabhängigkeitsbestrebungen deutlich wurden. Genau so gelassen sollte der Westen den Wunsch der ostukrainischen Bevölkerung nach zwei eigenen Staaten betrachten und nicht überall das Intrigenspiel des „bösen Wladimir“ vermuten – wozu er nach drei NATO – Osterweiterungen allen Grund hätte. Herr Poroschenko hält zu wenig von „des Volkes Willen“. Er unterscheidet sich damit nur wenig von seinem Vorgänger Janukowitsch. Wenn das Volk nicht so will wie er, lässt er es mit Artillerie beschießen – und viele politische Kräfte im Westen liegen auf der Lauer, um ihm mit Waffenlieferungen zu Hilfe zu kommen. Am lautesten schreien diejenigen nach Waffenlieferungen, die am weitesten entfernt sind, der ehemalige amerikanische Präsidentschaftskandidat McCain aus Arizona, der kanadische Premier Harper aus Ottawa und der britische Premierminister Cameron aus London. Die deutsche Bundeskanzlerin scheint die Einzige zu sein, die in diesem von Hass und anderen Leidenschaften erfüllten Kommunikationschaos einen kühlen Kopf behält und sich als einzige Vernünftige gegen Waffenlieferungen an Herrn Poroschenko stemmt. In Anbetracht der noch nicht zur Ruhe gekommenen Leidenschaften kann man dem Waffenstillstand von Minsk nur wünschen, dass er eingehalten wird.