Sehr geehrte Damen und Herren,
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“.
So lässt Heinrich Heine seine berühmten Nachtgedanken aus dem Jahr 1844 beginnen. Anders als es der allgemeine Sprachgebrauch vermuten lässt, lag der Schlaflosigkeit des Romantikers keine politische Analyse der Situation in Deutschland zugrunde, sie war vielmehr Ausdruck einer herzzerreißenden Sehnsucht des ins französische Exil geflüchteten Dichters nach seiner Mutter. Nur an einer Stelle streift Heine die allgemeine Lage in seinem Heimatland: „Deutschland ist von ewigem Bestand, es ist ein kerngesundes Land!“.
Wie sehr haben sich die Zeiten doch geändert.
Deutschland befindet sich in einem dramatischen Niedergang.
Nirgendwo lässt sich dieser Befund besser ablesen als an der Entwicklung der Industrie, dem ehemaligen deutschen Vorzeigesektor schlechthin.
Entgegen dem Trend im Rest der Welt befindet sich die Industrieproduktion seit mittlerweile sechs Jahren im Sinkflug.
Dass sich die Kluft zur Konkurrenz ausgerechnet seit 2018 ausweitet, könnte dem EU-Beschluss über den Ausstieg aus der Verbrenner-Technologie geschuldet sein.
Damit wurden der deutschen Automobilindustrie die über Jahrzehnte hinweg erarbeiteten Wettbewerbsvorteile im Handstreich entzogen.
Es kommen allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren hinzu: Die illegale Zuwanderung, die jährlich Zig-Milliarden an Sozialleistungen verschlingt, die träge und ausufernde Bürokratie, hohe Abgaben, die demografische Alterung, Arbeitskräftemangel, hohe Energiepreise aufgrund einer verkorksten Energiewende und vieles mehr.
In Umfragen zur internationalen Standortqualität landet Deutschland regelmäßig abgeschlagen auf hinteren Rängen. Der einstmalige Export- und Fußballweltmeister in Serie ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
Die Gründe für dieses Siechtum sind die ungünstige demografische Entwicklung, gepaart mit der weltweit geringsten Zahl an Arbeitsstunden (sogar in Frankreich wird mehr gearbeitet), sowie der stagnierende Produktivitätsfortschritt.
Vom fleißigen, erfindungsreichen deutschen Ingenieur fehlt in der Statistik jede Spur. Im Gegenteil. Junge gut ausgebildete Menschen verlassen beinahe fluchtartig ihr Heimatland.
Als Folge davon reicht in Zukunft jede noch so kleine konjunkturelle Schwäche in China, den USA oder aber den großen Mitgliedsstaaten der Eurozone aus, um Deutschland in eine Rezession zu treiben.
Für eine wirkungsvolle Absorption externer Schocks fehlt schlicht der Speck auf den Rippen.
Deutschland hat in den vergangenen 20 Jahren in dem Irrglauben eines immerwährenden Wohlstands über seine Verhältnisse gelebt und zahlt nun die Zeche dafür.
Damit nicht genug.
Die demografische Alterung dämpft nicht nur das Produktionspotenzial, sie erhöht auch den Finanzierungsbedarf der gesetzlichen Rentenversicherung.
Wenn die 2018 beschlossene doppelte Haltelinie (Beitragssatz bei 20% gedeckelt, Sicherungsniveau vor Steuern nicht unter 48%) fortbestehen soll, müssen weiter steigende Zuschüsse des Bundes die ausufernde Finanzierungslücke schließen.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Zuschuss bereits von knapp 60 Mrd. Euro jährlich auf über 100 Mrd. Euro erhöht und wird in den nächsten Jahren exponentiell weiter steigen.
Noch genießt Deutschland als Schuldner an den internationalen Finanzmärkten einen guten Ruf. Das könnte sich aber in den nächsten Jahren gravierend ändern.
Zumal die Zinswende erst mit Verzögerung die jährliche Zinslast in die Höhe treibt und damit eine Schuldenspirale in Gang setzen könnte.
Deutschland befindet sich in keiner konjunkturellen, sondern einer strukturellen Wachstumskrise, die sich nur über eine nachhaltige Beschleunigung der Produktivitätszuwächse überwinden lässt.
Für die hierfür notwendigen staatlichen Investitionen in die Infrastruktur, die Digitalisierung, die Verbesserung der Finanzausstattung von Forschungseinrichtungen oder die Bereitstellung von Wagniskaptal für Firmengründungen fehlt indes das Geld.
Es hat sich „ausgewummst" in Deutschland.
Dass die dringend erforderlichen Investitionen in die Stärkung des Wachstumspotenzials nur noch über die Ausrufung von Notlagen möglich sind, ist ohnehin ein politisches Armutszeugnis.
Deutschland geht außerst unruhigen Zeiten entgegen wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Es braut sich gesellschaftspolitisch ein toxisches Gemisch zusammen.
An klugen Vorschlägen, wie das Ruder herumgerissen werden könnte, besteht kein Mangel.
Allerdings ist zu befürchten, dass der politische Mut für eine wachstumsfördernde Agenda erst auf den Trümmern der nächsten schweren Krise aufgebracht wird.
Die „gute“ Nachricht: Auf diese schwere Krise werden wir nicht mehr allzu lange warten müssen.
Freundliche Grüße
Alfred Kastner