Der Einfluss des Geistes der Kleriker auf politische Entscheidungen war unglaublich, ist erheblich geblieben und verstärkt sich aktuell erneut – in der ganzen (christlichen) Welt. Zum Beispiel auf die Flüchtlingspolitik – jedoch nicht nur darauf – haben ethische und moralische Maßstäbe auch heute großen Einfluss. Die Prägungen, die (biblischen) Wertevorstellungen, sind in unseren Köpfen seit Jahrhunderten implementiert. Kein einziger Deutscher hat mit seinem Denken so viel politischen Einfluss ausgeübt wie Martin Luther. Beispielsweise kommt es nicht von ungefähr, dass die Führung eines (gemeinnützigen) Vereins, der auf dem Mittelmeer ein Boot zur Aufnahme von Flüchtlingen betreibt, aus „Funktionären“ der Evangelischen Kirche besteht und die grüne Politikerin Göring-Eckardt, selbst in der Lutherischen Kirche aktiv, diesen Verein (politisch) unterstützt und dieser Verein Zuwendungen aus Steuermitteln erhält (Quelle: Internet).
Der Einfluss der Kirchen geht jedoch viel weiter und dauert schon viel länger: Viele Menschen in England und in den USA werden zum Beispiel durch die protestantischen Werte und Vorstellungen von John Wycliff geprägt, dem Reformator, der bereits lange vor Luther, im 14. Jahrhundert, die Päpste angriff. Hätte es in Europa zur Zeit von Wycliff bereits den Buchdruck gegeben, wäre er als großer Reformator bekannt geworden. Denn auch John Wycliff übersetzte die Bibel in die Sprache des Volkes, nur eben lange vor Luther. 1366 wurde Wycliff – im Alter von 38 Jahren – zum Kaplan des Königs ernannt. Kurze Zeit später wurde er in Oxford zum Doktor der Theologie promoviert. Wycliff veröffentlichte 18 Thesen, die verschiedene kirchliche Dogmen in Frage stellten. Er wurde der Ketzerei beschuldigt – Wycliff widersprach unter anderen auch öffentlich der Lehre von der Verwandlung von Brot und Wein bei der Eucharistie. Zwei Jahre nachdem der Papst Bannbullen erließ starb John Wycliff (1379). Die „Wycliff-Bibel“ konnte der Reformator selbst nicht vollenden – das taten Gefolgsleute nach seinem Tod.
Wir wissen alle, dass das Oberhaupt der Englischen Kirche der jeweilige König, beziehungsweise die jeweilige Königin von England ist. Was meines Erachtens jedoch viel mehr wiegt: Welche Prägungen „die Denke“ der Reformatoren in uns hinterlassen hat. Welche, zum Beispiel?Wer sich bemüht und im Internet das Bruttosozialprodukt der Länder mit einem höheren Anteil an Protestanten anschaut wird staunen [ich sehe schon jetzt die Kommentare der (üblichen) Kritiker vor mir – dann bitte ich doch, andere Erklärungen für dieses Phänomen zu benennen und ggf. Belege vorzulegen].
Nach Amerika sind früher überwiegend Europäer ausgewandert, fast alle waren Christen, darunter ein erheblicher Anteil Protestanten. Der Anteil an heute sogenannten Evangelikalen (und Lutheranern) in den heutigen USA ist hoch. Wir alle können davon ausgehen, dass in den USA (ausschließlich) der Kapitalismus herrscht. An der Stelle erinnere ich an das Hauptwerk von Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, worin er die ethischen und ideellen Grundlagen für den Kapitalismus beschreibt, welche der Protestantismus liefert – beziehungsweise umgekehrt. Randbemerkung: Auf dem Boden der Werte der Bergpredigt des Jesus von Nazareth könnte nichts Kapitalistisches wachsen, insofern könnte sich Jesus um Grab umdrehen, weil seine Ethik mit Füßen getreten wird.
Wozu diese ganzen Erörterungen: Wir unterschätzen den Einfluss der Kirchen auf die Politik meines Erachtens ganz gewaltig. Nehmen wir nur auffällige Beispiele: Flüchtlingspolitik, Gesundheitspolitik, Migrationspolitik, Schulpolitik und Sozialpolitik. Wer fischt Flüchtlinge aus dem Meer – und profitiert anschließend davon? Wer betreibt in Deutschland bei weitem die meisten Krankenhäuser? Wer betreut Migranten – und profitiert davon? Allerdings profitieren durchaus auch vielen andere von dieser Politik. Es gibt etliche konfessionelle Schulen, aber noch häufiger Religions- und Ethikunterricht – welche Werte werden dort von wem vermittelt? Wer betreibt die allermeisten Sozialstationen? Wer betriebt die größte Zahl an Pflegeheimen? Und wer bezahlt die Priester, Pfarrer und Pastoren? Überraschung: Mal im Internet nach „Kirchenstaatsvertrag“ suchen.
Unser Staat hat es nie geschafft, sich von den Kirchen und ihren Organisationen zu lösen. Und in jeder Gesetzgebung, welche die Kirchen betrifft, nehmen die Kirchen Einfluss – und nicht nur dort. Wer zu einer Wahl geht sollte sich im Klaren sein, dass man stets die Gesinnung mit wählt, die in den Hinterköpfen steckt. Und die „christlichen Deckmäntelchen“ haben sehr viele schwarze, grüne, braune, rote, blaue und gelbe Löcher.
Jörg Stimpfig
Lieber Herr Stimpfig, Ihr interessanter Beitrag hat bei mir etliche Überlegungen ausgelöst. Vielen Dank dafür.
Ich bin getauft und auch in der DDR konfirmiert sowie kirchlich getraut, aber ansonsten sehr antikonfessionell aufgewachsen, erzogen und ausgebildet.
Die Kirchen wurden von der Staatsräson der Sozialisten gerade so geduldet und möglichst beiseitegeschoben. Der kreative Mensch und die Wissenschaft waren das Nonplusultra. Kirchlicher Glaube war verpönt.
In den siebziger Jahren aber suchten beide, der Staat und die Kirche, einen Weg zueinander, weil sie im Grunde das gleiche Ziel hatten, nämlich für das Wohl des Volkes da zu sein. Der Vater von Gregor Gysi, Klaus G., wurde zum Mittler ernannt und hat die Probleme sehr klug in Angriff genommen und vieles entkrampft.
Es war klar geworden, dass eine Gesellschaft ohne Götter und Glauben nicht ordentlich funktioniert. Auch Russland hat nach der sehr antireligiösen Sowjetzeit die Kirchen wieder installiert.
Natürlich haben Sie recht, die Konfessionen sollten sich nicht zu stark einmischen und ihre Manipulationsmöglichkeiten nicht über die Maßen für einzelne Parteien missbrauchen. Aber andererseits werden viele Menschen auch ganz bewusst Rat und Tipps bei politischen Entscheidungen in der Kirche suchen. Die Medien sind leider keine Hilfe bei der Frage nach dem Kreuz an der richtigen Stelle.
Religionsfreiheit ist ja ein Grundpfeiler der Demokratie. Ihre Überlegung, ob die Evangelen oder die Katholen fleißiger sind, wage ich nicht zu weiter zu denken. Da muss man wohl tolerant sein.