Psychisches Leid durch Unverstand – (Selbst-)Anklagen verschlimmern den Zustand
Nachdem sich ein Spermium und eine Eizelle im Leib unserer Mutter vereinigt haben, wächst etwas heran, das wir einmal unseren Körper nennen, obwohl weder die Eizelle, noch das Spermium in unserem Eigentum stehen. Später sprechen wir von unseren Beinen, unserem Bauch, unserem Herz, unseren Knien, unserem Kreuz, unserem Gesicht, unserem Gehirn und so weiter, obwohl das Baumaterial für all’ unsere Körperteile nicht unseres ist und alles was daraus entsteht uns demzufolge auch nicht gehört.
Obwohl uns nichts gehört entwickeln wir ein Ich-Bewusstsein, ein Ego, und glauben, dass wir Eigentümer unseres Körpers, einschließlich unseres Gehirns, seien, ohne uns je Gedanken gemacht zu haben, woraus wir entstanden sind. Dabei wird das virtuelle Ego, das eingebildete Ich, später zu unserem größten Sorgenkind. Wem gehören übrigens die Eizelle und das Spermium, das Baumaterial, aus denen wir entstanden sind? Wer selbst darüber nachdenkt kommt zu interessanten Erkenntnissen.
Dritte Woche: Das Nervensystem startet
In Mutters Unterleib bilden sich nach der Befruchtung in der Eizelle zunächst zwei Pole heraus und die Chromosomen von Vater und Mutter fügen sich alsbald zusammen und bilden einen doppelten Chromosomensatz. Ab diesem Zeitpunkt, ab dieser Verschmelzung, sprechen Biologen von der ersten Zelle, einer Zygote, welche das erste Etwas eines neuen Menschen darstellt. Die erste Zelle teilt sich, es werden zwei Zellen, durch weitere Teilungen vier, dann acht, dann sechzehn und so weiter und so weiter. Wir werden zu einem Embryo.
Bereits in etwa der dritten Lebenswoche werden die Grundbausteine des zentralen Nervensystems gelegt. In Kürze bildet sich das Neuralrohr, aus dem sich Rückenmark und Gehirn entwickeln, und anschließend die neuronalen Netzwerke, die uns später das Denken ermöglichen. Ab etwa der vierten Lebenswoche pumpt unser Herz bereits Blut durch die embryonalen Blutgefäße.
Der Embryo wächst schnell im Mutterleib und wird zum Fötus. Ab der 12. Woche sind wir als Nachkommen von Menschen zu erkennen. Das werden einmal wir, ein menschliches Wesen, obwohl uns nichts gehört – alles ist nur geliehen.
Unser Päckchen wird geschnürt
Im dritten Lebensmonat übernehmen wir unter anderem auch das Stressreaktionsmuster unserer Mutter. Sollte unsere Mutter, auch schon lange vor ihrer Schwangerschaft, ein psychisches Trauma durchgemacht haben, was ohne Zutun zu einem entsprechenden Stressreaktionsmuster führt, so übernimmt unser Gehirn dieses Muster von ihr. Dasselbe gilt auch für das Reaktionsmuster auf den Stress, den unsere Mutter während der Schwangerschaft erlebte.
Die symbiotische Entwicklung im Leib unserer Mutter hat sehr großen Einfluss auf unser gesamtes Leben. Es sind also nicht nur die Erbanlagen unser aller Vorfahren, die eine enorme Rolle spielen. Auch die Lebensumstände unserer Mutter vor und während ihrer Schwangerschaft sind höchst folgenreich für uns – oft lebenslang.
Symbiose mit Mutter – Sinneserfahrungen
Im Körper unserer Mutter werden wir optimal versorgt und sind geschützt vor schädlichen Umwelteinflüssen. Allerdings haben wir bereits im Bauch unserer Mutter Kontakt zur Umwelt. Wir bekommen zum Beispiel mit ob es dunkel ist oder hell und wir hören auch bereits im Mutterleib. Die Herztöne unserer Mutter sind uns vertraut. Auch unser ältester Sinn, der Geruchs- und Geschmackssinn, steht uns schon im Inneren unserer Mama zur Verfügung.
Mit keinem Menschen auf der ganzen Welt werden wir jemals so inniglich verbunden sein wie mit unserer Mutter.
Trennungstrauma und Todesangst
Nach diesen Überlegungen wird klar, dass jede Geburt mehr oder weniger großen Stress nicht nur für unsere Mutter, sondern insbesondere auch für uns selber bedeutet. Unsere Geburt ist die schwerste Trennung überhaupt in unserem Leben. Das Ende der symbiotischen Beziehung zwischen unserer Mutter und uns selber, der Verlust von Geborgenheit, perfekter Umgebung und optimaler Versorgung, wird mehr oder weniger als traumatisch erlebt.
Wir können uns leicht vorstellen, dass wir als neugeborenes Menschenkind viele, viele Wochen und Monate völlig hilflos sind – und auch noch im Alter von mehreren Jahren alleine nicht überleben könnten, im Unterschied zu „Menschenaffen“ zum Beispiel. Während wir im Mutterleib gut geschützt und mit allem was wir nötig hatten versorgt wurden, sind wir nun auf Hilfe von außen angewiesen. Wir würden sterben, wenn wir nicht von anderen aufmerksam und liebevoll betreut und versorgt würden. Wir können in Todesangst kommen.
Nicht nur körperliche, auch seelische, emotionale Vernachlässigung kann zum Tod führen (vgl. Experiment Friedrich II). Es zeigt sich recht früh, welches Stressreaktionsmuster unser Gehirn im Mutterleib übernommen hat.
Was uns im Normalfall beruhigt sind die vertrauten Herztöne unserer Mutter. Ebenso positiv wirken sich der Geruch und die Stimme unserer Mutter auf uns aus.
Auslöser wenn möglich vermeiden
Es braucht nicht sehr viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass wir als junge Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder Todesängste ausstehen, wenn wir befürchten, dass wir von unserer Mutter alleine gelassen werden. Die Entwicklungen und Verhältnisse im Mutterleib sowie die früheren Erfahrungen als neugeborenes Kind, Säugling und junges Kleinkind prägen unser ganzes Leben. Alles was uns bis etwa zum Ende der ersten 18 Lebensmonate widerfährt ist kaum reversibel, es sei denn, dass schnellstens, sofort ab dem 18. Lebensmonat, interveniert wird. Das ist spätestens seit dem Zeitpunkt gesichertes Wissen zu dem die Kinderheime in Rumänien aufgelöst und diese Kinder in Adoptions- oder Pflegefamilien vermittelt wurden. Die bei Kindern unter zwei Jahren entstandenen psychischen Deformationen konnten geheilt oder erheblich gebessert werden. Bei Kindern über zwei Lebensjahren war eine Besserung nur noch in Ausnahmefällen möglich (vgl. Gerhard Roth et al: Wie das Gehirn die Seele macht).
Die Trennung bei Geburt, gefolgt von der Trennung von der Mutter und Aufwachsen in einem Kinderheim, ohne liebevolle Fürsorge und menschliche Wärme, zerstören das restliche Leben der betroffenen Menschen. Überhaupt schädigt liebloses, vernachlässigendes Aufwachsen die menschliche Psyche – je früher desto intensiver und nachhaltiger.
Tatsachen akzeptieren statt leugnen
Die Gefühle von Neugeborenen, verbunden mit Stress, durch die Geburt und Trennung von der Mutter, sind in der Regel heftig und niemand will diese negativen Emotionen noch einmal erleben. Unser bewusstes Gedächtnis reicht in der Regel nicht in das zweite Lebensjahr oder früher zurück. Daher erinnern wir uns später nicht an unsere frühen Gefühle. Das heißt jedoch nicht, dass die frühen Erfahrungen nicht in uns gespeichert sind, wir sind ihnen nur nicht bewusst.
Mit Informationen über unsere Entwicklung im Bauch unserer Mutter und über unsere Erlebnisse in der frühen Kindheit können wir viel anfangen. Wir können beispielsweise Schuldgefühle für unser So-Sein aufgeben.
Wenn wir wissen, ob unsere Mutter früher traumatisiert oder Stress in der Schwangerschaft ausgesetzt wurde oder wir in der frühen Kindheit störende Erfahrungen durchlitten haben, dann wissen wir zumindest, woran es liegt, wenn wir im späteren Leben Probleme in (Paar-) Beziehungen oder/und mit Trennungen haben oder unter psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen leiden. Und wir können aufgeben uns dafür verantwortlich zu machen – oder machen zu lassen.
Elternführerschein – Aufklärung statt Schuldzuweisung
Wir sollten Obacht geben: Es geht in keinem Fall um Schuld, schon gar nicht um Schuld und Verantwortung von uns. Wir können ja zum Beispiel gar nicht für die Übernahme des Stressreaktionsmusters unserer Mutter verantwortlich sein, ebenso wenig ist unsere Mutter für ihr Stressreaktionsmuster verantwortlich. Dasselbe gilt für die Zustände vor und nach unserer Geburt und die eventuell mangelhafte psychische oder physische Betreuung. Und für die Erbanlagen in uns, die von unseren Vorfahren stammen, können wir schon gar nichts, genau so wenig wie unsere Eltern. Im Übrigen: Wenn unsere Eltern hätten besser handeln können, dann hätten sie’s getan.
Unsere Eltern haben uns sicher nicht mit der Absicht gezeugt uns als Objekt zu haben, das sie quälen und vernachlässigen können. Es gibt einfach keinen Elternführerschein, das ist das Problem: Eltern wissen nicht was sie tun (sollen).
Frühe Fremdbetreuung – fatale Folgen
Eine frühe Trennung von der Mutter, eine frühe Fremdbetreuung, ist immer mangelhaft – und zwar ohne jede Ausnahme. Jedes Kind ist an die Herztöne, den Geruch und die Stimme seiner Mutter gewöhnt. Die Stimme, der Geruch und die Herztöne seiner Mutter können das Kind beruhigen, insbesondere wenn es verängstigt ist.
Übrigens: Die weit überwiegende Zahl von Gefängnisinsassen, alkoholkranken Menschen, Drogenabhängigen und psychisch kranken Personen weisen Störungen in der Kindheit auf, insbesondere in der (sehr) frühen Kindheit. Und in etlichen Fällen leidet die Mutter dieser Menschen selbst unter den Folgen psychosozialer Defizite.
Frauen und Kinder müssen im Zentrum stehen
Nach wie vor wird auf die spezifischen Bedürfnisse von Schwangeren und Müttern sowie Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern seitens der Gesellschaft und den politisch Verantwortlichen viel zu wenig eingegangen. Nicht nur die körperliche Gesundheit, der Aufmerksamkeit geschenkt wird, zum Beispiel durch Impfungen, auch die psychische Gesundheit ist enorm wichtig, sie hat mindestens ebenso großen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit wie der somatische Zustand. Der seelischen Gesundheit wird bei weitem nicht genug Beachtung geschenkt.
Würde man von der menschlichen Seite völlig absehen und lediglich die materiellen Folgen der Defizite in Sachen Schwangeren-, Mütter- und Kinderbetreuung betrachten, dann gäbe es keine bessere (staatliche) Investition als die Förderung dieses Personenkreises (vgl. Manfred Spitzer). Die Folgekosten der Defizite in der frühen Kindheit müssen ja enorm hoch sein, schon angesichts der ständig steigenden Kosten allein für die Psychotherapie und Psychiatrie, um nur einmal ein Beispiel herauszugreifen. Es ist verwunderlich, dass die Forschung, zum Beispiel im Bereich der Neurowissenschaften, seit vielen Jahrzehnten gefördert wird, deren Erkenntnisse jedoch nicht in politisches Handeln umgesetzt werden. Allerspätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist bekannt, welche Bedeutung das sogenannte extra-uterine Frühjahr hat (vgl. Adolf Portmann). In Deutschland weisen zum Beispiel renommierte Forscher, wie etwa Gerhard Roth, Wolf Singer, Tanja Singer, Manfred Spitzer und Gerald Hüther sowie Hans-Joachim Maatz, Franz Ruppert und andere, schon seit Jahrzehnten auf die Zusammenhänge von Störungen im Mutterleib und in der frühen Kindheit mit späteren Nöten der Betroffenen hin – und insbesondere negative Einflüsse auf das Gehirn bei Föten sind oftmals irreversibel, aber nicht nur die, wie mit den ehemaligen rumänischen Heimkindern (s.o.) nachgewiesen.
Falsche Beschuldigungen mangels Informationen
Das Fatale ist, dass sich die Betroffenen selbst Schuld geben oder anderen Verantwortung zuschreiben oder beschuldigt werden. Jede Form von Schuldzuweisung ist hier jedoch unvernünftig und falsch.
In keiner allgemeinbildenden Schule wird gelehrt was Neugeborene, Säuglinge und junge Kleinkinder emotional brauchen, was sie zur Entwicklung einer gesunden Psyche benötigen, oder was ihre seelische oder geistige Entwicklung stört. Dieses Manko verursacht jede Menge emotionales Leid und extrem hohe Folgekosten. Es ist unverständlich, weshalb diese Zustände nicht geändert werden, obwohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen.
Alle Betroffenen sollten sich selbst im Klaren sein, dass frühe Störungen oftmals sehr schwer oder überhaupt nicht behoben werden können. Man fügt sich selbst weiteres Leid zu, wenn man glaubt, dass man unfähig ist sich zu ändern. Niemand leidet freiwillig. Wir alle wollen unser Bestes und tun dafür was wir können – und könnten wir’s besser, dann würden wir’s tun.
Laien reden oft dummes Zeug. Wer sich jedoch intensiv mit den Themen auseinandersetzt erwartet nichts Unmögliches. Zumindest gelegentlich gelingt es, sich mit seinen Schwächen, jedoch auch mit seinen ebenso vorhandenen erquicklichen Anteilen, konstruktiv zu beschäftigen, und einen Weg zu finden mit Defiziten zu leben und die Stärken auszubauen. Je öfter man’s versucht, desto wahrscheinlicher wird’s (etwas) besser.
So wie ein körperlich beeinträchtigter Mensch lernt mit seinen Behinderungen zu leben, so bleibt einem seelisch verletzten oder hirnorganisch nachteilig geprägten Menschen auch nichts übrig als mit seinen Beeinträchtigungen leben zu lernen.
Kein Umgang mit Unverständigen
Zum Abschluss ist nochmals darauf hinzuweisen, dass es nicht um Schuld geht und zum Beispiel der Satz: "Du könntest schon, du willst nur nicht", töricht ist. Wenn wir aus unserer Haut fahren könnten, wenn wir unser seelisches Leid loswerden könnten, dann würden wir das doch tun (wollen). Wir möchten alle glücklich und zufrieden leben und nicht leiden – soviel ist sicher.
Übrigens: Selbst der historische Buddha hatte noch Schmerzen. Er hat jedoch gelernt nicht daran festzuhalten, weil er – in der Vipassana-Meditation – im und am eigenen Leib erlebt und gespürt hat, dass sich alles stets verändert und jedes Klammern an Veränderliches zu Leid(en) führt. Dieses tatsächliche Spüren der Impermanenz im eigenen Körper führt zu Zufriedenheit – es bedarf jedoch Training Ausdauer. Weder Leib noch Leid halten eine Ewigkeit, alles ist ein Kommen und ein Gehen. Weshalb also an Vergangenem oder Gegenwärtigem festhalten – oder auf die Zukunft hoffen – oder sich oder sonst jemand Schuld zuweisen?
Jörg Stimpfig