Klaus ist Dr. des., also Sprachwissenschaftler, ohne veröffentlichte
Doktorarbeit, wurde von seiner Uni nach einmaliger Verlängerung im sechsten
Jahr entlassen. Im Verlaufe eines Jahres fand er keine neue Anstellung,
trotz intensiver Recherche. Seine Freundin ist vor vier Monaten aus der
gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Ihm wurde zudem vor einem Monat nach einer
Routineuntersuchung mitgeteilt, dass sein Körper wahrscheinlich auf einen
Tumor der Bauchspeicheldrüse zusteuert. Er sieht entsprechend etwas
verhärmt aus. Seine Eltern sind nach Südfrankreich ausgewandert. Sie
wollten und konnten nicht mehr in Deutschland leben. Klaus hat sich
inzwischen der AFD zugewendet. Er läuft ziellos durch seine neue
Heimatstadt und trifft in einer belebten Fußgängerzone auf einen Freund,
den er seit sechs Jahren weder getroffen noch mit ihm gesprochen hat. Ihre
Wege trennten sich, als Klaus sein Studium der Amerikanistik an einer
süddeutschen Uni begann. Werner strebte ebenfalls ein Studium an. Er wollte
es zum Maschinenbauingenieur bringen. Nach eineinhalb Jahren, knapp drei
Semestern brach er sein Studium ab. Er war inzwischen Vater eines eigenen
Kindes und der Tochter seiner Freundin geworden. Er heiratete seine
Freundin und adoptierte Leonie. Dann zogen sie nach Berlin, erhielten nach
einigen vergeblichen Bestechungsversuchen eine Ein Zimmer Altbauwohnung mit
Klo im Treppenflur im angesagten Bezirk Wedding. Wegen der besseren
Aufstiegschancen. Er hatte das Abitur mit durchschnittlichen Noten
abgeschlossen, war dann aber im Studium heillos überfordert. Also
entschloss er sich nach langen Gesprächen und Streitereien mit seiner Frau,
an der Abendschule den Beruf des Werkzeugmachers zu erlernen. Tagsüber
arbeitete er stundenweise für einen Pizzaservice, als Kurierfahrer für eine
Apotheke, die er dann am späten Abend als Putzkraft reinigte. Wenn es die
Abendschule zuließ. Werner zahlte Alimente für ein weiteres Kind, dass er
mit der Vorgängerin seiner Frau Ingwelde gezeugt hatte. Ingwelde verließ
ihn, als bei ihr die Schwangerschaft begann.
Als sie sich an diesem sonnigen Junitag etwa gegen vierzehn Uhr begegneten,
hatte Werner gerade sein Fahrrad an einen Kollegen übergeben, der seine
Pizzazustellung für die nächsten drei Stunden übernahm. Er fühlte sich
unwohl und war erkältet. Die alljährliche ,Sommergrippe‘ hatte ihn
zuverlässig wie immer erwischt. Er war eben im Begriff, die Apotheke zu
betreten, für die er weitere drei Stunden fahren würde, um sich vorher noch
ein Medikament gegen seine Erkältungssymtome geben zu lassen, als er mit
Klaus fast zusammengeprallt wäre. Beide lebten inzwischen in Berlin und
trugen sich mit dem Gedanken, ins Umland Brandenburgs zu ziehen. Die
Wohnungsmieten explodierten in diesem Jahr derartig, dass weder Klaus noch
Werner bereit waren, mehr als siebzig Prozent ihres monatlichen Verdienstes
bzw. der Stütze vom Arbeitsamt ausschließlich für das Wohnen auszugeben.
Klaus war nach Berlin gezogen, weil er dort eine Zeitlang als
freiberuflicher Dolmetscher für mehrere Unternehmen arbeiten konnte. Er
hatte gehofft, auf diesem Gebiet expandieren und seinen Kundenkreis
erweitern zu können. Bals schon stellte er fest, dass die Firmen lieber
junge Studenten für Übersetzungsaufträge rekrutierten. Sie waren
unschlagbar günstig und nach nicht einmal einem halben Jahr war er seine
spärlichen Aufträge los. Seitdem hatte er dutzende Bewerbungen geschrieben;
von seinem Wissen als Dr.(in der Warteschleife) der Amerikanistik wollte
niemand profitieren. Er bemühte sich, optimistisch zu bleiben, doch
allmählich breitet sich Frust in ihm aus.
Klaus: „Mensch, Tschuldigung, bist du nicht Heinz, Peter, nee Quatsch,
Werner aus Schwerin?“
Werner: „Ja, Warum? Ehh, du bist doch…“
Klaus: „Klaus, auch von da.“
Werner: „Ist lange her, zehn Jahre?“
Klaus: „Was machst du HIER?“
Werner: „Und du?“
Klaus: „Hab‘ eine geile Wohnung in Mitte, total schick und günstig.“
Werner: „Du auch? Ich suche gerade eine Penthouse Bude.“
Klaus: „Du wolltest doch Ingenieur werden. Biste?“
Werner: „klar! Und du?“
Klaus: „Aber sowas von! Bin jetzt Unternehmensberater.“
Werner: „der Hammer, große Firma? Kohle stimmt, oder? Wie geht’s deiner
Freundin, wie hieß sie doch gleich? Alles tiptop mit euch, oder?“
Klaus: „Kerstin, na klar!“
Werner: „Verheiratet?
Klaus: „Im Herbst wollen wir heiraten, vielleicht auf Hawaii.“
Werner: „Alter! Ich wusste es immer; du kommst groß raus.“
Klaus: „Na ja, geht so…“ Grient bescheiden.
Werner: „Du siehst gut aus, hast du abgenommen?“
Klaus: Ja, warum? Ach so, ich faste regelmäßig. Ist gesünder und so.“
Werner: „Du kannst dir deine Zeit einteilen, ich meine auf Arbeit, oder?
Klaus: „Das möchte sein.“ Schaut auf die Uhr.
Werner: „Du musst weiter, stimmt’s? Termine schätz‘ ich.“
Klaus: „Nee, die kann ich mir einteilen.“ Lacht gequält, er hat wieder
Schmerzen.
Werner: „Aber ich muss zu einem Termin, wir entwickeln einen
Verpackungsautomaten für Amazon. Kennste doch, oder?“
Klaus: „Alle Achtung, wir müssen mal unsere Telefonnummern und die Adressen
austauschen.“
Werner: „Unbedingt!“
Beide schütteln sich die Hände, klopfen sich auf die Schultern. Klaus geht
mit gesenktem Kopf und starken Schmerzen davon und Werner umkreist noch
einmal den Block, bevor er die Apotheke betritt. Fünf Minuten zu spät!
Klaus ist nicht mehr zu sehen. Beide atmen auf. Trotz Unterhaltung sind sie
hoffentlich inkognito geblieben. ,Ob Klaus die Wahrheit gesagt hat?‘ Werner
hatte kurz ein schlechtes Gewissen. Klaus ebenfalls. Nach einer
Viertelstunde war der Vorfall vergessen.