Plädoyer für unsere Tauben
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Wegner, sehr geehrte Frau Dr. Herrmann,
noch vor gut 10 Jahren war der Hinterhof unseres Gemeinschaftshauses ein Vogelparadies. Wir hatten Spatzen, Anselm, Finken, Meisen, Rotkehlchen, Tauben…, ein ständiges Gurren, Pfeifen und Zwitschern lebte in unseren Bäumen und Sträuchern - und in der Dämmerung konnte man mit ein bisschen Glück den Gesang der Nachtigall vom Lietzensee hören. Mitten in einer Großstadt! Und trotz der vielen Autos, die auf beiden Seiten unserer Straße parken! Inzwischen sind die Singvögel verschwunden, wir haben nur noch Tauben im Hof, während die Krähen an unserer Seite zum Park die Balkone bevorzugen. Tauben haben Angst vor Krähen. Jahrelang fütterte ich 1 mal täglich die Tauben auf meiner Fensterbank, aber weil sich 1 Bewohnerin darüber beschwerte, weil Tauben angeblich krank machen, ist das verboten. Seitdem füttere ich unten an der Straße an den von unseren Mieterinnen liebevoll bepflanzten Baumspiegeln. Wenn ein Auto vorbeikommt oder parken will, fliegen die ängstlichen Tauben hoch, kommen aber wieder. Die intelligenten Krähen haben inzwischen gelernt, die Tauben beim Fressen nicht mehr zu vertreiben; sie knacken im Abstand selber ihre Erdnüsse auf und nähern sich dem allgemeinen Futter erst, wenn die Tauben satt sind und wegfliegen.
Das Füttern dauert nur 5-10 Minuten am Tag. Aber es gibt Menschen, die Tauben fürchten oder sie so hassen, dass sie sich jahrelang unermüdlich darüber beschweren oder sie als Opfer für unverarbeitete Aggressionen nutzen, weil diese Tiere wehrlos sind. Stadttauben sind ehemalige Haustiere und an den Menschen gebunden. Man hat sie gezüchtet und ihre Eier gegessen. Im Krieg wurden sie ausgebombt und verloren ihr Zuhause. Nun leben sie in einer Welt voller Gefahren und Feindseligkeit, im Verkehr auf den Straßen, verletzen sich an Zackenleisten unserer Fenster, werden überfahren, fliegen gegen Glasscheiben, finden nirgendwo Ruhe und sind durchweg unterernährt. Oft werden sie auch bewusst gequält. Wo die Liebe fehlt, da gefällt sich der Hass in seiner Art Fantasien. Obwohl die Harmlosigkeit der Tauben laut Gesundheitsamt u.a. maßgeblicher staatlicher Institutionen* wie bei Haustieren ist, gibt man ihnen die Schuld an menschlichen Krankheiten. So wurden sie von Nutztieren zu Schädlingen erklärt und dienen vielen Menschen als Sündenböcke für Frust. Irgendjemand muss ja schuld an der eigenen Unzufriedenheit sein, wenn man selber nichts dagegen tut. Die Tauben müssen mit dem Hass leben. Auf 1 Taube kommen in Berlin 366 Menschen, in Paris 10 mal soviel. Ihre Lebenserwartung von ehemals 20 Jahren ist auf 3 Jahre zurückgegangen. In Berlin haben sie sich in den letzten Jahren von ca. 60.000 auf ca. 10.000 verringert, dank natürlicher Geburtenkontrolle durch Eier-Enteignung.
Als uns kürzlich in Berlin alles eisig und glatt war, konnte ich wegen meiner Gehbehinderung die Tauben nicht draußen füttern. Also streute ich meine Körner bei offenem Fenster auf die Innen-Fensterbank in meiner Woh- nung und bat die Hausverwaltung wegen der unter mir lebenden Mieterin um ein Gespräch, damit sie mich für die paar Minuten leben ließ. Aber da kam nur Panik und Katastrophenalarm: Tauben haben Zecken! Lesen Sie mal Berichte über Zecken! Die sind lebensgefährlich! Da müssen wir u.U. das ganze Haus „entmieten“! – O je! Darf da unser REWE-Markt das Futter noch zum günstigen Winterpreis anbieten? Ich selbst kenne Zecken nur im Sommer. Wenn ich zu meiner Familie ins Münsterland fahre, schlafe ich immer mit einem Kater im Bett, früher waren es sogar 2. Wenn sie festsitzende Zecken haben, entferne ich sie mit einer Zange aus der Haut und habe sie ganz schnell heraus. Aber bei Zecken im Gehirn ist das nicht so einfach. Unsere Hausverwaltung beißt sich an einer einzigen Mieterin fest, die sich seit Jahren beschwert, und macht die zum Maßstab für über 100 andere. Wie soll man die herauskriegen? Bei Tieren sind die vielen Haare darüber kein Problem. Natürlich habe ich auch über Zecken gelesen: Es gibt viele Sorten, aber Taubenzecken verbreiten keine Infektions-Erreger.* Täglich steigen wir in unsere Autos, stürzen uns in die Gefahren des Verkehrs, nutzen Geräte, die uns verbrennen oder um die Ohren fliegen können, aber bei den arglosen Tauben fürchten wir um unser Leben.
Ich liebe diese Tiere und bin u.a. mit Tauben aufgewachsen. Nehmen Sie sich doch mal im Sommer die Zeit, eine einzelne Taube, die Ihnen zufliegt, auf Ihrer Fensterbank zu beobachten! Wie sie ihre grazilen rosa Füßchen ganz langsam und vorsichtig auf die Schwelle setzt und sich prüfend umschaut oder sich sanft hereintastet, weil sie Sie vielleicht besuchen will… Für mich hat das was Zauberhaftes! Wie sorgfältig und glatt sind diese verschiedenen Federn und Grautöne passend zueinander gestaltet und aufeinandergelegt… ! Von der Seite her sehe ich sie elegant und schön, von hinten bisweilen drollig. Wenn mir schon beim Schreiben, also beim innerem Sehen einer Taube, eine spürbare Liebe durch meinen ganzen Körper geht, wie groß muss dann erst die Liebe ihres Schöpfers sein, der sie erdacht und ihre Entwicklung durch Jahrtausende hindurch begleitet hat? Wenn sich Tauben mit oder ohne Futter auf der Fensterbank streiten, eile ich sofort hinzu und erkläre ihnen, dass das die Ruhe der Verwaltung stört. Und wenn sie mir dann mit schräg gelegten Köpfen andächtig zuhören, fühle ich mich wie der heilige Franziskus von Assisi, der den Vögeln gepredigt hat – und schon bald sind sie sich plötzlich einig und flattern gemeinsam weg, obwohl meine Rede noch nicht fertig ist.
Kinder lieben Tiere. Auch ältere Menschen haben gern ein Haustier. Warum? Weil das Tier die Liebe weckt. Liebe erfüllt. Wo sie noch leben und sich unverzerrt ausbreiten darf, schwindet in unserer Seele der Raum für negative Gefühle oder gar Depressionen. Die finden nicht mehr genug Platz, um ihre miesen Eier auszubrüten! Kinder sind meist ungebrochen lebensfroh. Mangels geeigneter Erfahrungen gehören sie noch nicht zu den Miesmachern unseres Planeten und erleben das Tier als seine Mitwelt. Das ist paradiesisch (Mt 18,3). Als wir zuhause mal zu Ostern ein Osterlämmchen auf dem Tisch hatten, das wir Kinder aus dem Ziegenstall kannten, haben wir geweint. - So manches Haustier leistet langfristig mehr für unsere seelische Gesundheit als ein Luxus-Urlaub oder eine teure Kur auf Kosten unserer Solidargemeinschaft. In unserm Haus gibt es keine Haustiere. Da stören schon die Vögel auf dem Dach. Noch in ihrem letzten Brief klagte die Hausverwaltung über das unangenehme Geräusch der Flügel, das sie beim Herunterfliegen einmal gehört hat, als sie unser Haus besuchte. Das störende Gurren der Tauben ist schon lange aktenkundig. Wo lassen sich Hausverwaltungen eigentlich beerdigen? Gibt es in Berlin vogelgezwitscherfreie Friedhöfe mit Garantie auf ewige Ruhe?
Vor ca. 30 Jahren gab es hier u.a. 10-12 Berufs-Musikerinnen im Haus. Deshalb zog ich als Musiklehrerin hier ein. Heute mache ich nur noch ehrenamtlich Musik in unserer Hauskapelle und möchte das nicht missen. Wir waren ein Haus unserer Kultur mit öffentlichen Konzerten und schönen Vorträgen. Natürlich gab es da Probleme mit ruhebedürftigen Mietern – doch die Geschäftsführung des Hauses erließ in Absprache mit uns eine Hausordnung, die allgemein angenommen wurde. Da hatten wir jahrelang Frieden. Sogar eine Solistin der Deutschen Oper Berlin konnte hier leben und üben. Erst als eine offizielle Hausverwaltung alles übernahm, wurden die Beschwerden mehr und die Musikerinnen zogen aus. Ich kenne nur noch eine. Inzwischen erfuhr ich, dass die Hausordnung für Musikerinnen hinterrücks wieder reduziert und Wohnungs-Bewerberinnen gefragt wurden, ob sie ein Instrument spielen. So macht man das. Wo eine potente Singstimme als „asozial“ empfunden und Musik nur „ruhestörender Lärm“ ist, gibt es für den Nachwuchs unserer weltweit unerreichten europäischen Musikkultur keinen Raum mehr. Diese Kultur setzt volle Natur voraus. Sie geht u.a. daran zugrunde, dass der Normalmensch den himmelweiten Unterschied zwischen echter Potenz und technisch gehievter Dekadenz z.B. eines Sängers nicht bemerkt und das „soziale Gewissen“ des Marktes ihn großzügig verschleiert. Ist das ein ehrlicher Wettbewerb? Wir verwerfen unsere elementaren kultischen und musischen Kräfte, die vitale Anbindung von Seele und Gemüt an unsern Ursprung, zugunsten eines sterilen Intellekts, der sich vergöttlicht. Die Griechen nannten das die „epimetheische Dummheit“. Das ist Prometheus, der in seiner Arroganz seinen Schatten, den dummen Bruder Epimetheus, vergisst. Alles Irdische hat sein Gegenteil – das entspricht der Polarität unserer Erde. Und Mythen sind die Erfahrungswissenschaften unserer Seele.
Wenn Kinder nicht mehr schreien, Menschen nicht mehr singen und Tauben nicht mehr gurren dürfen, ist die Käfighaltung des Menschen langfristig gesichert: Der dressierte Mensch. Den kann man wunderbar verwalten! Da hat man Ordnung und Ruhe, „die Ruhe eines Kirchhofs!“ (F.Schiller/DonCarlos). Aber ist es der Sinn von Verwaltung, für lebensfeindliche Leisetreter immer wieder Ohr und Zeit zu haben und den „Störenfried“ mit obrigkeitlichem Gequake abzufertigen, damit sie in Ruhe ihre Kröten zählen kann? Verwaltung ist mehr als ein Geschäft. Es ist das Walten über eine Gemeinschaft oder ein Gebiet, das auch Sorge und Betreuung einbezieht. Sogar ein Regierender Bürgermeister oder ein König ist im Sinne des Wortes ein Verwalter.
Es ist Weihnachten. Seit Jahrtausenden feiern Kulturen in aller Welt die Geburt oder Wiedergeburt des Lichtes, die Wende im Kreislauf der Sonne, ihre Rückkehr oder Auferstehung aus der Unterwelt. Sie feiern das Licht, das am Beginn der Zeiten in der noch unberührt jungfräulichen Mutter Erde das Leben gezeugt hat und das immer noch tut. Ohne Licht wäre unser Planet dunkel und tot. Für die Urmenschen war das Licht oder die Sonne ein Gott, weil sie um ihre Abhängigkeit davon wussten. Auch die Pflanze richtet sich im Licht und zum Licht auf. Ohne Licht kann sie nicht leben. So ist auch der Mensch. Nur Sumpfblüten bevorzugen die Dunkelheit.
Im übertragenen Sinne feiern wir heute das Licht der Welt in seiner geistig-seelischen Bedeutung. Dieses Licht wurde vor über 2000 Jahren als göttliche Liebe in menschlicher Gestalt geboren und sogar von fremden Weisen als König erkannt. Die Geburt Gottes im Menschen wandelt die Urangst in Vertrauen. Sie macht uns bewusst, dass wir aus Liebe geschaffen, unter allen Umständen geliebt sind - und diese Liebe sogar in uns selbst erkennen und der Welt gebären können. Diese leibseelische Erkenntnis erlöst und befreit zu neuem Leben. Was nützt es also, auf dem Geld zu sitzen, zu protzen, sich ständig mit Anderen zu vergleichen und an fremden Maßstäben abzukraxeln? Neid und Gier saugen uns seelisch aus und lassen uns innerlich leer werden. Nur eine tiefere Liebe kann wirklich erfüllen, nur sie macht uns langfristig und immer wieder glücklich. Diese Liebe hat einen langen Atem, sie ist gütig, langmütig und geduldig…… aber kein Trottel, der sich alles gefallen lässt.
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In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister und sehr geehrte Frau Dr. Herrmann, ein glückliches neues Jahr. Es wäre wunderbar, wenn Sie im Rahmen Ihrer großen gesellschaftlichen Möglichkeiten auf eine für Sie geeignete Weise auch unsere Berliner Tauben an Ihrem Glück teilhaben lassen könnten. Was versteht denn eine diktatorische Hausverwaltung von Vögeln? Und wer denkt noch daran, dass die meist sanfte Taube in unserem von Krieg, Macht- und Geldgier erschütterten Planeten das menschheitlich älteste Symbol des Geistes und des Friedens ist?
Ihre Lucia Tentrop
Webseite der Autorin:
http://www.lucia-tentrop.de/