Liebe Leser, liebe Schreiber,
erneut möchte ich mich aus dem hohen Norden an den tiefen Süden wenden. Wie Sie wissen, hat Mecklenburg-Vorpommern in diesem Jahr die Präsidentschaft im Bundesrat inne und Manuela Schwesig möchte aus diesem Anlass eine Debatte über das Grundgesetz anstoßen. Die SVZ rief daraufhin die Leser auf, ihre Meinung dazu zu äußern. In einem Gastbeitrag(SVZ vom 25.10.23) schrieb der 80ig jährige Heiko Lietz, Bürgerrechtler der ersten Stunde und seit 1990 Kämpfer für eine Verfassung, warum es für eine Diskussion über eine Verfassung nicht zu spät ist und warum sie notwendig ist.
Ich unterstütze diese Gedanken und finde, dass sie nicht nur hier oben, sondern auch anderweitig ventiliert werden könnten und sollten.
Im gleichen Zuge könnte unser Land auch eine neue Nationalhymne gebrauchen.
Dazu schlage ich einen Text von Berthold Brecht, der ja in Augsburg geboren und Ihnen demzufolge bekannt ist, vor.
Er hat ihn als Kinderhymne 1950 verfasst. Sie werden ihn nicht kennen. Deshalb erlauben sie mir bitte, ihn hier aufzuschreiben.
Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand,
Dass ein gutes Deutschland blühe,
Wie ein anderes gutes Land.
Dass die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin,
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern woll’n wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag‘s uns scheinen,
Wie den andern Völkern ihr‘s.
Es gibt schon eine Melodie von Hanns Eisler dazu, aber man könnte auch eine neue schreiben.
Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinsam darüber nachdenken könnten und etwas auf den Weg brächten.
Mit den allerbesten Grüßen
Irmgard Hollnagel
Hallo Fr. Hollnagel,
vielen Dank für Ihre Gedanken zu einer für unser Land würdigen Verfassung. Das am 23.5.1949 verabschiedete und einen Tag später in Kraft getretene Grundgesetz [GG] (für die alte Bundesrepublik) war als Provisorium gedacht, das nach einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten (BRD und DDR) durch eine echte Verfassung hätte abgelöst werden sollen (Art. 146 GG).
Nach der Vereinigung von BRD und DDR im Jahre 1990 verzichtete die damalige Bundesregierung unter Führung des äußerst mittelmäßigen Kanzlers Helmut Kohl trotz entsprechender bindender Vorgabe des GG auf diese Maßnahme. Wer will, kann somit behaupten, dass die damalige Bundesregierung sowie alle ihre bisherigen Nachfolger grundgesetzwidrig handelten.
Es ist jedoch auch fair zu erwähnen, dass die damalige britische Premierministerin Thatcher ("Eiserne Lady") in den sog. 2+4-Gesprächen darauf beharrte, dass die neue BRD sich keine Verfassung gab. Helmut Kohl knickte ein. Nun ja, sieht so Souveränität aus?
"Keep Germany down" - etliche Leser kennen diesen (Teil-)Satz. Woher nur? Lord Ismail, erster NATO-Generalsekretär, formulierte in wenigen kurzen Sätzen das Ziel des Militärbündnisses: "Keep America in, keep Russia out, keep Germany down". Und jetzt lecken wir Deutschen in ständiger Selbstverachtung brav die Stiefel unserer "Freunde".
Das GG bildet die Grundlage, auf der alle anderen Gesetze und Vorschriften fußen. Eine (ordentliche) Verfassung erfüllt denselben Zweck. Ist trotzdem das GG zu Gunsten einer Verfassung abzuschaffen? Ich meine ja. Zum einen gäben wir ein Provisorium auf, zum anderen dokumentierten wir unsere Eigenständigkeit, ein erster Schritt zur Souveränität. Wer will schon gerne weiterhin Muckefuck trinken, wenn er köstlichen Bohnenkaffee haben könnte? Wer liebäugelt mit einem Surrogat, wenn er das Original verwirklichen könnte?
Welche Vorgaben sollten in einer zukünftigen Verfassung festgeschrieben sein? Undiplomatisch fordere ich die deutliche Beschneidung von Kompetenzen der Bundesländer zugunsten der Kompetenz der Bundesregierung, also ein wichtiger Schritt auf ein zentral regiertes demokratisches Land wie z.B. Frankreich, Spanien und Großbritannien. Das derzeitige Kompetenzgerangel blockiert das Land, man denke nur an die derzeitige Gesundheits- und Bildungspolitik. Als Fernziel könnte die Abschaffung der Bundesländer stehen; an ihre Stelle träten die derzeitigen Regierungsbezirke (ähnlich wie in Frankreich die Departements, die direkt Paris unterstellt sind). Sind die genannten Länder auf Grund ihrer zentralistisch aufgebauten Verwaltung deshalb undemokratisch? Mitnichten!
Eine lesenswerte Darstellung zum GG und seiner Entwicklungs- bzw. Änderungsgeschichte findet man auf:
https://de.wikipedia.org/wiki/Grundgesetz_f%C3%BCr_die_Bundesrepublik_Deutschland
Lesenswert auch die Abhandlung "Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf?":
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32023/das-grundgesetz-eine-verfassung-auf-abruf/?p=all
Zu Ihrem Vorschlag einer neuen Nationalhymne kann ich wenig Erhellendes beitragen. Ich verweise auf das "Lied der Deutschen" (Deutschlandlied), das Hoffmann von Fallersleben am 26.8.1841 auf Helgoland dichtete.
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Lied_der_Deutschen
Die bisherigen zahlreichen Gebietsverluste Deutschlands in Ermangelung von Fähigkeiten seiner militärischen Führungen (😀😀😀) lassen die erste Strophe obsolet werden. Wer weiß heute noch, wo Memel und Etsch fließen? Ich weise darauf hin, dass von Fallersleben mit diesen geografischen Bezeichnungen die Eckpunkte des damaligen deutschen Sprachraums absteckte.
Im letztgenannten Internet-Beitrag wird erwähnt, dass von Fallersleben eine interessante Idee des Minnesängers Walther von der Vogelweide (er liegt in meiner Geburtsstadt hinter dem Dom begraben) aufgriff.
"Deutsche Art und Bildung übertrifft alle anderen", formulierte es damals der Minnesänger. Wäre ich Minnesänger, ich müsste traurige Weisen auf das katastrophale Bildungssystem verfassen.
Fr. Hollnagel, ich bitte Sie um brauchbare Vorschläge für Melodien zu unserem abgewrackten Land!
Man könnte auch fragen: Sollte Deutschland nicht erst in eine deutliche bessere Verfassung (im Sinne von "Zustand") gelangen, bevor es sich eine Verfassung (Rechtsrahmen) gibt?
Was zählt z.B. zu einer besseren Verfassung: Z.B. eigenständiges Handeln, Durchsetzung von Souveränität, unbedingte Neutralität gegenüber Kriegsparteien.
In einer e-Mail erhielt ich den Hinweis (vielen Dank an den Hinweisgeber!), dass 1990 bei den Beitrittsverhandlungen Hr. Wolfgang Ullmann (geb. 1929; Mitglied der DDR-Delegation) wertvolle Hinweise für eine gemeinsame Verfassung gab. Der Kohl-Regierung gelang es, diese Beiträge zu ignorieren.
Als ich den o.g. Hinweis las, fiel mir unvermittelt ein alter Bürowitz zum Thema "Management-Methoden" ein, hier: Management nach der Champignon-Methode:
1, Alles gedeiht im Dunkeln am Besten
2. Sobald sich helle Köpfe zeigen, werden sie abgeschnitten.
"Was kann aus der DDR schon Gutes kommen? (Joh 1, 46)", fragte Nathanael (oder war es Helmut Kohl?) 😀😀😀
Wer Lesenswertes über Hr. Ullmann erfahren möchte, suche im Internet nach "Wolfgang Ullmann Beitrittsverhandlungen). Sein Lebenslauf steht hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Ullmann