Wie die Zeitungen mit Bürgermeinung umgehen.
1. Die Süddeutsche Zeitung
Die SZ hat zwei Leserbriefbereiche. Einen im Hauptblatt, der drei bis vier mal pro Woche erscheint und einen im Lokalteil, der sporadisch gedruckt wird.
Die Leserbriefseite im Hauptblatt:
Schon beim Überfliegen der Seite fällt auf, dass sie in zwei Teile zerfällt: ein "Hauptthema" und "Weitere Leserbriefe". Das Hauptthema ist nie aktuell. In der Regel hinkt es dem täglichen Geschehen ein bis zwei Wochen hinterher. Zu Wort kommen in der Regel (bis zu 100%) Akademiker. Da wimmelt es nur so von Professoren und Doktoren. Wenn man es, als Normalsterblicher, geschafft hat, dort gedruckt zu werden, hat das was mit Ritterschlag zu tun.
Die SZ verlangt von ihren Leserbriefschreibern den Bezug auf einen bestimmten Artikel aus der Vergangenheit der SZ. Wenn man dann bei der Redaktion nachfragt, ob damit freie Leser nicht zu Jubelpersern degradiert werden, ob es dann nicht unmöglich sei, kreative, übergreifende, inhaltlich neue Briefe zu schreiben, rudert die Redaktion zurück und verzichtet auf den Themenbezug, um eine Woche später wieder darauf zu bestehen.
Fazit: Wenn Sie wollen, dass Ihr Brief im Themenbereich gedruckt wird, sollten Sie mindestens Prof.Dr.Dr. sein, sollten möglichst lange Briefe schreiben und sollten dabei keine neuen Ideen entwickeln, sondern den Ursprungsartikel loben oder schimpfen.
Etwas leichter ist es in der Unterrubrik "weitere Leserbriefe". Dort sind die Themen aktueller und ein bisschen ist diese Rubrik so wie sich Bürger Huber eine Leserbriefseite vorstellt: gescheit, öffnend, aktuell, anders eben.
Leider aber, ist der Platz, für eine so große Zeitung, einfach zu gering. Da passen vier, fünf Briefe rein, nicht zu lange, sonst wird gekürzt.
Fazit für die Leserbriefseite im Hauptteil der SZ: eine glatte fünf.
Die Leserbriefe im Lokalteil erscheinen sporadisch. Wer also Leserbriefe liebt, blättert zuerst mal durch, weil sie selten bis nie auf der Startseite angekündigt werden, aha, wieder nichts, und fängt dann u.U. zu lesen an.
Sonst gibt es nichts auszusetzen. Alles was der Hauptteil vermissen läßt, ist dem Münchner Bürger gewährt.
Ich vergebe eine zwei.
Nachtrag: Die SZ veröffentlicht die Leserbriefe nicht im Internet. Dafür benachrichtigt sie die Schreiber, wenn sie ihren Brief gedruckt hat. Sehr löblich. Wir fügen der fünf und der zwei ein Plus hinzu.
2. Der Münchner Merkur
Schon der erste Eindruck entlockt dem geübten Leserbriefleser ein "Wow".
Eine ganze Seite! Regelmäßig ! Bilder möglich! Im Internet veröffentlicht, also jeder Brief diskutierbar!
"Der Kandidat hat 100 Punkte", möchte man rufen und ruft es auch lange.
Denn einen kleinen Wermutstropfen hat auch diese wunderbare Seite Bürgermeinung.
Sie sollten, als Bürger, nicht zu viel Meinung haben. Eine Meinung im Monat reicht. Ihre andere Meinung schicken Sie besser nicht, sonst erreicht Sie bald eine Mail des genervten Redakteurs, dass Sie zu viel Meinung haben und ihm dann besser gar keine Meinung mehr zu schicken haben.
Weil aber die meisten Leserbriefschreiber eh nicht mehr als eine Meinung im Monat haben, verdient die Leserbriefseite des Münchner Merkurs die Note eins Minus, die leicht zu einer eins plus werden könnte, lernte man von der SZ und benachrichtigte die Schreiber im Druckfall. Und hätte man ein wenig Geduld mit seinen Lesern und würde sie strickt nach Qualität und nicht zusätzlich nach Menge beurteilen.
3. Die Abendzeitung
Die Leserbriefseite der AZ erscheint zwar beinahe täglich, aber sie vermittelt dem AZ-Stammkunden den Eindruck eines Stiefkindes. Eines Lückenbüßers. Mal ist es die halbe Seite, mal grade zwei Spalten, mal fehlt sie ganz. Und: wahrscheinlich von Existenznöten bedroht, experimentiert die AZ mit der Leserbriefseite. Da kommt es schon mal vor, dass anonyme Netzmeinung neben unterschriebener, verantworteter Meinung gedruckt wird, da werden Leserbriefschreiber, die die AZ selbst jahrelang, durch immer wieder Drucken, aufgebaut hat, von heute auf morgen geschasst, da wird Artikelbezug gefordert oder auch nicht, wie es der AZ gerade in den Kram passt. Bei all den Versuchen, auf die einfache Idee, ein kleiner Weg aus der finanziellen Misere könnte das Ernsternehmen der Bürger sein, die stärkere Einbindung der Bürger, mehr Platz, mehr durchschaubare Struktur, mehr Diskussion im Internet vor allem mit verantworteter Meinung nicht nur mit dem Netzgeschwafel, darauf kommt die AZ nicht.
Und so bekommt die AZ von mir eine vier, die nur deshalb keine fünf geworden ist, weil die AZ, mehr als die anderen Münchner Zeitungen, die Identifikation ihrer Leser mit den Leserbriefschreibern zulässt, indem sie, jedenfalls bis vor einer Woche, manche der Schreiber immer wieder druckt.
4. Die TZ
Die TZ hat keine Leserbriefseite. Irgendwo, irgendwann, findet jeder ihrer Leser mal irgendeinen Schnipsel, der unterschrieben ist.
Die TZ hat auch als einzige namhafte Zeitung in Deutschland keine Mailadresse für Leserbriefe. Fragt man da nach, erhält man die Adresse des Sekretariats der TZ. Das nenne ich mal Bürgernähe!
Weil es sonst keinerlei Instrument gibt, das die Einbindung der Bürgermeinung in die TZ ermöglicht und das mir bekannt wäre, erhält die TZ die glatte Note sechs in Bürgernähe. Die sollten mal bei ihren Kollegen von Münchner Merkur vorbeisehen. Ist ja nicht weit.
5. Die BILD
Findet der Leser in der großen BILD die kleine Lesermeinung? Eher nicht. Wenn doch, dann kurz, knapp, zwei drei Sätze, fertig.
Als einzige Zeitung in Deutschland druckt die BILD aber gerne Leserschnellschüsse mit Bild des Autors. Bleibt zu hoffen, dass sie das tut, nicht nur weil sie "Bild" heißt, sondern weil sie als einzige Zeitung begriffen hat, dass Leser gerne wissen wer ihnen denn da schreibt. Weil sie als einzige Zeitung den Schreiber ein wenig aus der Anonymität hebt. Und sich damit wirklich wirksam gegen das Internet zur Wehr setzt.
Allein deshalb erhält die BILD eine Drei. Obwohl sie eher eine Fünf (sie informiert den Schreiber nicht, wenig Platz, kein Internet, "Bild kämpft für Sie", ja wo denn? Usw.,usw..) verdient hätte.
All die beschriebenen Zustände bei den Münchner Zeitungen sind, jeweils in anderen Zusammenstellungen für die Behandlung der Bürgermeinung in deutschen Zeitungen symptomatisch. Das geht von Belegzeitung für den Autor (TAZ, Spiegel, Focus) bis zum "Verschlucken" hunderter Briefe wie in einem schwarzen Loch: Dialog findet schlicht nicht statt. Das geht von immer ungekürzt drucken, bis zur vollständigen Verstümmelung. Manchmal gar zu Neudichtungen.
Nur, ich warne. Der Trend der Bürger steht auf Beteiligung. Auf Einmischen. Auf Selbstverwaltung der Macht. Und das wird die Politiker genau so treffen wie die Zeitungen. Da werden zwei, drei Redakteure bei der Frankfurter Rundschau (der auch noch ums Überleben kämpft), beim Münchner Merkur (dem's über den Kopf zu wachsen scheint) oder bei der TAZ nicht reichen. Denn, auch wenn das nicht wahrgenommen werden will: Die Leserbriefseite ist einer der Hauptkriegsschauplätze der Printmedien gegen das Internet. Wenn es nicht gelingt, die Leser mit ihrer vom Redaktionskalkül freien Meinung so zu integrieren, dass sich Leser auch mit Lesern identifizieren können, wenn es also nicht gelingt, die personenbezogene, verantwortete Meinung von den Redakteuren auf die Leserbriefschreiber auszudehnen, wird das Internet mittelfristig alle Funktionen übernehmen.
Und das fände ich schade.
Michael Maresch